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Weißer Mond von Barbados

Titel: Weißer Mond von Barbados Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Evelyn
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um bei einem Zimmermann in die Lehre zu gehen, konnte er lesen und schreiben. Sie waren acht Kinder zu Hause, drei Mädchen und fünf Jungen, alles kräftige kleine Ukrainer, sie besaßen weder Schuhe noch Strümpfe, und Fleisch bekamen sie höchstens zweimal im Jahr zu essen.
    In einem Winter, als Pavlov zwölf Jahre alt war, starben eine seiner Schwestern und zwei kleine Brüder. Es gab keine Medizin für die Kinder, nicht einmal eine wärmende Decke für das sterbende kleine Mädchen. Seine Mutter rutschte auf den Knien vor einer simpel bemalten Ikone des heiligen Nikolaus herum und betete monoton um das Leben ihrer Kinder.
    Ihr Sohn beobachtete sie dabei, und wenn manchmal die ganze Familie kniete und betete, blieb er stehen, nachdenklich und kritisch, und fragte sich, ob dieses Stück Holz mit dem gemalten toten Heiligen darauf wirklich imstande sein würde, das Leben seiner Geschwister zu retten.
    Innerhalb von zwei Tagen starben die Kinder, und von da an war Pavlov Golitsyn ein Atheist. Er sprach nicht darüber; soviel wußte er schon vom Leben, daß es besser war, manche Dinge für sich zu behalten. Man durfte nicht aussprechen, daß die totale Unterwerfung unter die Gebote des Zaren nichts anderes war als eine unerträgliche Tyrannei, ebenso wenig wie man daran zweifeln durfte, daß es jenseits des Todes ein wunderbares neues Leben geben würde, wie es die Christlich-Orthodoxe Kirche verhieß.
    Er lernte brav sein Handwerk, und in seiner freien Zeit las er die Bücher, die er sich vom Schulmeister lieh. Er las alles, was er bekommen konnte, fest entschlossen, soviel zu wissen und zu lernen, wie nur immer möglich sei. Er war vierzehn, als an einem Sommernachmittag die Polizei erschien und den Lehrer und seine Frau verhafteten. Ein Stapel revolutionärer Bücher und Schriften wurde in ihrem Hause gefunden und öffentlich verbrannt. – Aber niemand fand die Bücher, die der Lehrer dem jungen Golitsyn gegeben hatte, denn die waren, eingehüllt in einen Segeltuchsack, in einem Graben hinter der Hütte der Eltern vergraben. Dort ließ er sie liegen, ein ganzes Jahr lang, ohne sie anzurühren.
    Der neue Lehrer war ein alter Mann und selbst so unwissend, daß er kaum die eigenen Schulbücher lesen konnte, dazu war er großmäulig, schlampig und versoffen, es bestand keinerlei Gefahr, daß die Jugend des Distrikts durch ihn mit revolutionären Ideen in Berührung kam.
    Es war Pavlov Golitsyn, der nach und nach die Aufgabe des verschwundenen Lehrers übernahm. Der war übrigens zu zwölf Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden, seine Frau hatte Prügel und Folter im Arrest nicht überlebt.
    Golitsyn ging mit äußerster Vorsicht zu Werke. Er besaß nichts von dem glühenden Kampfgeist mancher anderer junger Revolutionäre, die nur zu schnell in die Hände der zaristischen Okhrana gerieten. Er hielt nicht das geringste von Märtyrertum, dazu war die Sache zu ernst, es gab viel Arbeit zu leisten, besser man ließ sich auf kein Risiko ein. Er war ein Revolutionär von der Art seines Helden Lenin, der es fertig brachte, in all den wilden, vom revolutionären Fieber geschüttelten Jahren nur vier Jahre im Gefängnis zu verbringen.
    Als der Krieg begann, wurde es stiller um die Revolution. Die patriotischen Gefühle überwogen zunächst, die Revolutionäre arbeiteten im Untergrund.
    Als die Moral der russischen Soldaten im Kriegsjahr 1917 zerstört war, einesteils weil die Gerüchte sagten, daß die Regierung mehr oder weniger von der deutsch-blutigen Zarin beeinflusst wurde, andererseits weil es keine Munition mehr gab, um zu kämpfen – war die Stunde der Revolution gekommen. Die Armee holte den Zaren vom Thron, die Soldaten verließen die Front.
    Einer der Anführer aus Volinskys Regiment, das zu jener Zeit in St. Petersburg lag, war Pavlov Golitsyn; sie erschossen ihre Offiziere, hissten die rote Fahne und vereinigten sich mit der revolutionären Masse auf der Straße.
    Fünfundvierzig Jahre später war er General, einer der letzten Überlebenden aus der Zeit des frühen Bolschewismus, ein Mann, dessen Vorsicht ihn auch die gefährlichen Jahre des Stalin-Regimes hatte überstehen lassen, unerschüttert in seinem Glauben, daß der totale Sieg des Bolschewismus kommen würde, und zwar durch Kampf und Stärke, niemals durch friedliche Kompromisse.
    Er hatte sich kaum verändert, seit er als Siebzehnjähriger die rote Fahne an sein Gewehr gebunden und den Mob durch die Straßen von Petersburg geführt hatte.

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