Weißer Mond von Barbados
Er dachte und fühlte als alter Mann nicht anders als damals. Der absolute Gehorsam, den er der Partei, ihrer Autorität und ihren Gesetzen zollte, war im Grunde kein anderer als der Gehorsam, den sein Urgroßvater als Leibeigener dem Großfürsten entgegenbrachte, dessen Eigentum er war.
Golitsyn hasste Feodor Sverdlov. In seinen Augen war Sverdlov einer der gefährlichsten Männer im Geheimdienst, einer, der aufgeweicht und demoralisiert worden war im Umgang mit dem kapitalistischen Feind, ein Verräter, der Kompromisse und Koexistenz pries. 1919 war Golitsyn Mitglied der Tscheka geworden und hatte ohne Erbarmen und mit blutiger Gewalt die Konterrevolution bekämpft. Er tat seine Arbeit aus innerer Überzeugung, er akzeptierte Berijas Methoden ohne Einschränkung. Niemals war ihm die Idee gekommen, daß er mit vollem Einsatz ein Terrorregime unterstützte, nicht weniger unmenschlich als das, welches er als junger Mensch gehasst und bekämpft hatte.
Endlich besaß er eine Fähigkeit, die ihn allen Wechsel in der Führung überstehen ließ, auch den Fall von Berija, er war ein Gefolgsmann, einer, der gehorchte, und nicht einer, der fragte und kritisierte und sich durch eigene ehrgeizige Ideen exponierte.
Zunächst war er ganz damit zufrieden, unter Feodor Sverdlov zu arbeiten, obwohl dieser soviel jünger war als er, denn er anerkannte Sverdlovs großes Können, seinen erstklassigen Ruf als fähiger Offizier, den er sich während des ungarischen Aufstandes erworben hatte. Persönliche Eitelkeit also hätten Golitsyn nicht gegen seinen Chef eingenommen. Erst als er Sverdlovs freie Haltung erkannte, dessen fortschrittliche, oder wie er es sah, abtrünnige Gedanken, wandte er sich gegen ihn. Dazu kam noch das natürliche Misstrauen des einfachen Bauern gegen den Intellektuellen. Und schließlich war Sverdlov der Angehörige einer Generation, die weder Krieg noch Revolution aus eigener Anschauung kannte, die alles so leicht nahm, die nicht anerkannte, was die Generation vor ihr wirklich geleistet hatte.
Mißtrauisch abwartend, hinterhältig schließlich, beobachtete er den Jüngeren, der in seinen Augen die Partei durch seine liberale Haltung verriet.
Doch nun war die Stunde des Generals gekommen, der Wechsel in der russischen Politik, die Rückkehr zu härterem Kurs würde Sverdlovs Karriere beenden.
Eigentlich hätte der General längst aus dem Dienst scheiden müssen, er war alt genug. Auf seinen Wunsch hatte man ihn auf seinem Posten gelassen. Er war Witwer, hatte erwachsene Kinder, die ihr eigenes Leben lebten. Wenn er pensioniert wurde, hatte sein Leben keinen Sinn mehr. Es war eine furchtbare Vorstellung für ihn, im Lehnstuhl zu sitzen und auf den Tod zu warten.
Anna Skriabine hatte ihm ihren ersten Bericht gegeben, nachdem sie drei Tage für Sverdlov gearbeitet hatte. Er studierte die Kopien von Sverdlovs Äußerungen zum Fall ›Blau‹ und seine Ansichten zu dem vorgeschlagenen Gespräch zwischen Israel und den arabischen Staaten. Sverdlovs Report würde nach Moskau gehen, zum Dzershinsky-Platz.
Der General machte ein grimmiges Gesicht. Natürlich, wieder die weiche Tour, Verständigung, Gespräch, Verhandlung. Nur ein Verräter konnte empfehlen, daß der sowjetische Druck im Mittleren Osten gemildert werden solle. Der Rat, daß Ägypten einen Unterhändler von Tel Aviv empfangen solle, war ein weiterer Beweis von Sverdlovs Neigung zur kapitalistischen Welt. Dies fügte der General von sich aus dem Bericht zu.
Sverdlovs plötzlicher Entschluß, Ferien zu machen, hatte Golitsyn die langerwartete Gelegenheit gegeben, zu tun, was schon lange sein Plan war: Kalinin, Sverdlovs Sekretär, in die Hände zu bekommen.
Daß Kalinin so loyal mit Sverdlov zusammenarbeitete, war Grund genug, ihn zu verdächtigen. Für Golitsyn war es eine Kleinigkeit, seine Heimkehr zu verfügen. Dort war er verhaftet und ins Verhör genommen worden. Alles, was man aus ihm herausbringen würde, war dazu bestimmt, später bei Sverdlovs Prozess Verwendung zu finden.
Fast hatte sich Golitsyn ein wenig gefürchtet, was Sverdlov sagen würde, wenn er den Verlust Kalinins entdeckte. Da er Sverdlovs Neigung zu hübschen Frauen kannte, hatte er den Ersatz für Kalinin sorgfältig ausgesucht.
Anna Skriabine war eines seiner besten Mädchen, bestens dazu ausgebildet, ihren jeweiligen Chef zu bespitzeln. Außerdem war sie ein Typ, der Sverdlov gefallen würde. Sverdlovs Schwäche für hübsche Frauen war bekannt. Ebenso, daß die Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher