Weisser Oleander
zusammenpasste. Die Vorstellung machte mir Hoffnung, dass auch mein Leben eines Tages Sinn ergeben würde, wenn ich nur alle seine Teile gleichzeitig zusammenhalten konnte.
Den Rest des Sommers gingen wir zweimal wöchentlich in die Kandinsky-Ausstellung. Claire kaufte mir Pastellkreiden, so-dass ich mit Farbe arbeiten konnte, ohne die Wärter nervös zu machen. Wir verbrachten für gewöhnlich den ganzen Tag in einem einzigen Ausstellungsraum und betrachteten ein Bild. Das hatte ich vorher noch nie gemacht. Eine Komposition von 1913 ließ den Ersten Weltkrieg erahnen. »Er war sehr sensibel. Er sah voraus, dass der Krieg kommen würde«, sagte Claire. Die wilde Schwärze, die Kanonen, eine Stimmung so gewalttätig und dunkel – es war klar, dass er die Abstraktion erfinden musste.
Die Rückkehr nach Russland. Der Überschwang der Avantgarde, doch gleichzeitig der immer stärker werdende Verdacht, dass sie sich schon dem Ende näherte, obwohl sie gerade erst in voller Blüte stand. Hin zum Bauhaus in den Zwanzigern. Gerade Linien, geometrische Formen. In solchen Zeiten ließ man sich nicht gehen. Man versuchte, eine allem zugrunde liegende Struktur zu finden. Ich verstand ihn genau. Schließlich der Umzug nach Paris. Rosa, Hellblau und Lavendel. Wieder organische Gestalten, das erste Mal nach vielen Jahren. Welche Erleichterung Paris für ihn gewesen sein musste: die Farben, die Fähigkeit, wieder weich zu sein.
Wie er wohl unsere Zeit malen würde? Glänzende Autos und verletztes Fleisch, Jeansblau und gezackte Hundezähne, Spiegelscherben, Feuer, orangerote Monde und Granatherzen.
Im Herbst meldete ich mich wieder für freiwillige Leistungskurse in der Schule an. Claire überzeugte mich davon, dass es einen Versuch wert sei. Natürlich wählte man freiwillig zusätzliche Leistungskurse. Natürlich trug man seinen Schmuck. Natürlich meldete man sich für Kunstkurse im Museum an. Natürlich.
Im leeren Studio im Keller des Kunstmuseums warteten wir auf die Lehrerin, Ms. Tricia Day. Meine Handflächen hinterließen Schweiß auf der Sammelmappe, die Claire mir gekauft hatte. Sie wollte mich für einen Erwachsenenkurs in Malerei anmelden. Es gab Kurse für Teenager: Fotografie, Textiles Gestalten, Video. Aber nicht Malerei. »Wir werden mit der Lehrerin sprechen«, sagte sie.
Eine Frau betrat den Raum. Klein, mittleren Alters, mit kurz geschorenem grauem Haar. Sie trug Khakihosen und eine schwarze Hornbrille. Sie musterte uns genervt, eine übereifrige Mutter und ihr verwöhntes Gör, die eine Sonderbehandlung wollten. Schon unsere bloße Anwesenheit war mir peinlich, doch Claire verhielt sich überraschend geschäftsmäßig. Ms. Day ging kurz meine Mappe durch; mit scharfem Blick glitten ihre Augen über die Blätter. Die realistischen Sachen, Claire auf der Couch, die Weihnachtssterne und die L.A.-Kandinskys. »Wo hast du Unterricht gehabt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nirgendwo.«
Sie sah die Mappe zu Ende durch und gab sie dann Claire zurück. »Okay. Wir versuchen es mal.«
Jeden Dienstagabend brachte Claire mich zum Museum, fuhr dann wieder nach Hause und kehrte drei Stunden später zurück, um mich abzuholen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so bereitwillig Dinge für mich tat; ich hatte das Gefühl, sie auszunutzen. Doch in Gedanken hörte ich meine Mutter sagen: »Sei nicht albern! Sie will ausgenutzt werden.« Aber ich wollte nicht so sein. Ich wollte sein wie Claire. Wer außer Claire sorgte dafür, dass ich zum Kunstunterricht ging; wer sonst würde seine Dienstagabende opfern?
Im Kunstunterricht lernte ich, Grundierung aufzutragen, eine Leinwand zu spannen und sie mit Leimgrund zu glätten. Ms. Day ließ uns mit Farbe experimentieren, mit Strichtechniken. Der Pinselstrich zeigte, wie man den Arm bewegt hatte. Er war Ausdruck der Existenz des Malers, dokumentierte die Eigenarten seiner Persönlichkeit, wie er den Pinsel berührt, wie stark er aufgedrückt hatte. Wir malten Stillleben. Blumen, Bücher. Einige der älteren Damen im Kurs malten nur ganz kleine Blümchen. Ms. Day forderte sie auf, größer zu malen, doch sie waren zu gehemmt. Ich malte Blumen so groß wie Pizzen, Erdbeeren, vergrößert zu einer Anhäufung grüner Dreiecke auf rotem Grund, die Muster der Samen. Ms. Day war sparsam mit ihrem Lob und barsch in ihrer Kritik. Jede Woche brach jemand in ihrem Unterricht in Tränen aus. Meine Mutter hätte sie gemocht. Ich mochte sie auch.
Ich wählte vorsichtig aus, was ich
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