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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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ich!«
    Ich tauchte einen kleinen Sumi-Pinsel in ein Tintenfass und malte mit ein paar Pinselstrichen Bögen und Linien und einen schwarzen Fleck auf das Papier. Ihre Gewalt. Claire, was weißt du schon über Gewalt? Die Stärke meiner Mutter? Nun, sie war nicht stark genug, um zu verhindern, dass sie als Hintergrund für meine Kunst dienen musste. Nur als Hintergrund. Ihre Worte bloß meine Leinwand.
    An einem lauen und dunstigen Tag kam Claire mir bis zum Rosenbogen entgegengelaufen. »Ich habe eine Rolle!«, rief sie, noch ehe ich den Bogen durchquert hatte.
    Sie warf den Kopf in den Nacken und streckte der schwachen Wintersonne ihre Kehle entgegen, ihr Gelächter sprudelte empor wie ein Geysir. Sie umarmte und küsste mich. Sie versuchte, Ron in Russland anzurufen, im Uralgebirge, wo er von einer Tagung zum Thema Telekinese berichtete. Sie konnte ihn nicht erreichen. Selbst das tat ihrer guten Laune keinen Abbruch. Sie öffnete eine Flasche Tattinger-Champagner, die sie im Kühlschrank für eine besondere Gelegenheit kalt gestellt hatte. Er sprudelte über die Gläser und den ganzen Tisch hinweg und schäumte auf den Boden. Wir stießen auf ihre neue Arbeit an.
    Es war keine große Rolle, aber kompliziert. Sie sollte die elegante, aber betrunkene Frau eines der Darsteller auf einer Dinnerparty spielen, in einem langen Kleid und Diamanten. Das hieß viel Essen und Trinken; sie musste genau behalten, wann sie was tun musste, sodass alles zusammenpasste. »Dass ich aber auch immer die einsame Frau von irgendjemandem spielen muss!«, stöhnte sie. »Anscheinend bin ich genau der Typ für diese Rolle.«
    Sie hatte die Rolle bekommen, weil der Regisseur ein Freund von Ron war und die Schauspielerin, die die einsame Frau eigentlich hätte spielen sollen, sich in letzter Minute das Schlüsselbein gebrochen hatte. Jetzt brauchten sie eine Frau, die etwa die gleiche Größe und Haarfarbe hatte und das trägerlose Abendkleid tragen konnte.
    »Wenigstens werde ich mit dem Hauptdarsteller sprechen«, erklärte sie mir. »Sie können die Szene also nicht einfach rausschneiden.«
    Es war eine kleine Rolle, nur fünf Sätze, eine Frau, die zwei Szenen später tot aufgefunden wird. Ich half ihr, die Sätze zu proben, und übernahm den Part des Helden. Das Schwierigste sei, so erklärte sie mir, dass sie in der Szene essen und trinken müsse, während sie sprach. Sie hatte es nach dem zweiten Versuch raus, bestand jedoch darauf, die Szene wieder und wieder zu üben. Sie legte peinlich genauen Wert darauf, sich einzuprägen, bei welchem Wort sie eine Pause einlegte und den Wein trank, wann genau sie die Gabel zum Mund führte, mit welcher Hand und wie hoch. »Essensszenen sind die allerschlimmsten«, erklärte sie. »Alles muss genau zusammenpassen.« Wir probten ihre Rolle eine Woche lang. Wegen fünf Zeilen machte sie einen solchen Aufstand. Mir war vorher gar nicht klar gewesen, dass Schauspieler solche Perfektionisten sind. Ich hatte immer gedacht, sie stellten sich einfach vor die Kamera und spielten drauflos.
    Am Tag der Dreharbeiten hatte sie um sechs Uhr morgens einen Termin in der Maske. Sie sagte mir, ich solle nicht aufstehen, doch ich stand trotzdem auf. Ich setzte mich zu ihr, während sie sich einen Energiedrink mixte, Proteinpulver, Spirulina, Hefe und Vitamin E und C hineinrührte. Sie war sehr blass und still. Ganz konzentriert. Sie führte eine Atemübung durch, die sich »Atmende Affen« nannte, bei der sie sowohl beim Einatmen als auch beim Ausatmen chinesische Silben sang. Die ausgeatmeten Töne klangen tief und voll, doch die eingeatmeten waren sonderbar, hoch und wimmernd. Es nannte sich Chi Gong; sie sagte, es beruhige sie.
    Ich umarmte sie kurz, als sie ging. Sie hatte mir beigebracht, niemals »viel Glück« zu sagen. Unter Schauspielern sagte man »Hals- und Beinbruch«. »Hals- und Beinbruch!«, rief ich ihr nach und zuckte zusammen, als ich sah, wie sie über den Rasensprenger stolperte.
    Nach der Schule raste ich nach Hause, gespannt darauf, wie ihr Drehtag gelaufen war, und vor allen Dingen darauf, etwas über Harold McCann zu hören – den englischen Filmstar, der Guy spielte –, doch sie war noch nicht zurück. Ich machte all meine Hausaufgaben und arbeitete in Englisch und Geschichte sogar vor. Gegen sechs war es dunkel und immer noch kein Anruf, keine Spur. Ich hoffte, dass sie keinen Autounfall gehabt hatte, sie war an diesem Morgen so nervös gewesen. Aber wahrscheinlich war sie mit den

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