Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
meiner Mutter schrieb. Hallo, wie geht es dir? Wie läuft das Schreiben? Ich schrieb über die Schulnoten, den Garten, den Kunstunterricht, den Geruch der Santa-Anas, die verdörrte Landschaft, die blaugraue Novemberstimmung, die kürzer werdenden Tage . Lauter einser. Ballköhnigin. Ich schickte ihr kleine Zeichnungen und Aquarelle in Postkartengröße; sie hatte nicht viel Platz in ihrer Zelle. Sie mochte die Kandinsky-Periode und meine neuen Arbeiten. Ich schickte ihr eine Serie von Bleistiftzeichnungen auf Pergamentpapier. Es war ein Selbstbildnis, doch in einzelnen Schichten; hier eine Linie, da eine Linie, immer nur eine; sie musste die einzelnen Zeichnungen übereinander legen, um das Ganze zu erfassen – wie, musste sie selbst herausfinden. Ich servierte ihr nichts mehr fertig. Sie musste selbst dafür arbeiten.
    Meine Mutter schrieb, dass zwei ihrer Gedichte in der Kenyon Review und in der Lyrik-Sonderausgabe von Zyzzyva veröffentlicht worden seien. Ich fragte Claire, ob wir die Zeitschriften besorgen könnten, und sie fuhr mich zu Book Soup auf dem Sunset Boulevard und kaufte mir beide. Eines war ein langes Gedicht über das Lauftraining im Gefängnis, das jetzt einen großen Teil ihres Tages einnahm. Wenn sie nicht schrieb, lief sie um den Sportplatz, fünfzig, hundert Meilen in der Woche. Alle vier Monate hatte sie ihre Sportschuhe abgelaufen; manchmal gaben sie ihr neue, manchmal aber auch nicht. Ich hatte eine Idee.
    Ich kopierte das Gedicht zehnmal und benutzte die Fotokopien als Hintergrund für meine Zeichnungen. Ich saß am Tisch in der rot-weißen Küche und zeichnete mit Ölkreiden über ihre Worte, das Gefühl des Rennens, der sinnlosen, kreisförmigen Aktivität. Wie ihre Gedanken.
    Die Regenfälle hatten eingesetzt, sie flüsterten draußen vor dem beschlagenen Küchenfenster. Claire setzte sich mit einer Tasse Pfefferminztee neben mich. »Erzähl mir von ihr.«
    Irgendetwas hielt mich davon ab, Claire allzu viel von meiner Mutter zu erzählen. Sie war genauso neugierig wie alle anderen, meine Vertrauenslehrer in der Schule, Ray, Joan Peeler, die Herausgeber der kleinen Literaturzeitschriften. Dichter im Gefängnis, ein Paradoxon schlechthin. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie hatte einen Mann umgebracht. Sie war meine Mutter. Ich wusste nicht, ob ich ihr ähnlich war oder nicht. Meistens wollte ich nicht über sie sprechen. Ich wollte Claire völlig getrennt von meiner Mutter halten. Ich wollte, dass sie auf verschiedenen Blättern waren und nur ich sie zusammen gegen das Licht halten konnte.
    Claire las wieder das Gedicht über das Laufen. »Diese Zeile gefällt mir: die Gegengerade, zwanzig Jahre. Eine Stoppuhr ohne Zeiger . Das Leben im Gefängnis, es ist gar nicht vorstellbar. Drei Jahre vorbei, die aufgewirbelte Aschenbahn . Sie muss unheimlich tapfer sein. Wie kann sie das bloß aushalten?«
    »Sie ist nie da, wo sie gerade ist«, sagte ich. »Sie ist immer nur in ihrem Kopf.«
    »Das muss wunderbar sein.« Claire streichelte ihre Teetasse wie die Wange eines Kindes. »Ich wünschte, ich könnte das auch.«
    Ich war froh, dass sie es nicht konnte. Claire ließ sich von den Dingen berühren. Vielleicht zu stark, doch wenigstens berührten sie sie. Sie konnte nicht im Kopf die Tatsachen verdrehen, sie für sich passend machen. Ich betrachtete das Gedicht meiner Mutter in der Kenyon . Interessant, dass sie immer die Heldin war, die Geächtete, eine gegen den Rest der Welt. Niemals die Böse.
    »Das ist der Unterschied zwischen einem echten Künstler und dem Rest der Welt«, seufzte Claire. »Dass sie die Welt neu schaffen können.«
    »Du bist eine Künstlerin«, sagte ich.
    »Eine Schauspielerin«, sagte sie. »Noch nicht mal das.«
    Ich hatte inzwischen ein paar von Claires Filmen gesehen. Sie war durchsichtig, herzzerreißend. Ich hätte Angst, so verletzlich zu sein. Ich hatte die letzten drei Jahre versucht, mir ein dickes Fell zuzulegen, sodass ich nicht jedes Mal anfing zu bluten, wenn ich mich an irgendwas stieß. Sie war nackt, täglich verlor sie eine Hautschicht. In einem Film spielte sie die Frau eines Professors, zitternd und perlenbehängt. In einem anderen eine Frau aus dem achtzehnten Jahrhundert, eine verschmähte Liebhaberin, die ins Kloster ging. »Du bist eine wunderbare Schauspielerin«, sagte ich.
    Claire zuckte mit den Schultern und las das andere Gedicht, über einen Kampf im Gefängnis. »Mir gefällt die Gewalt deiner Mutter. Ihre Stärke. Das bewundere

Weitere Kostenlose Bücher