Weisser Oleander
den vertrauten Vorplatz, die Springbrunnen, das gedämpfte Licht, die gesenkten Stimmen. So wie Starr sich in der Kirche gefühlt hatte, fühlte ich mich im Kunstmuseum, sicher und erhaben zugleich. Kandinsky war gar nicht so abstrakt, ich konnte immer noch die russischen Städte mit ihren Zwiebeltürmen erkennen; Reiter, drei nebeneinander mit Speeren, Kanonen und Damen in langen Kleidern mit hohen Kopfbedeckungen. Reine Farben wie die Illustrationen in einem Bilderbuch.
Im angrenzenden Raum lösten sich die Bilder auf.
»Kannst du die Bewegung spüren?«, fragte Claire und deutete auf einen großen Winkel auf der Leinwand; die Spitze zeigte nach rechts, der Winkelbogen nach links. Sie folgte mit der Handkante den Linien. »Es sieht aus wie ein Pfeil.«
Der Museumswärter beobachtete ihre aufgeregten Hände, für seinen Begriff zu nah an den Gemälden. »Miss?«
Claire errötete und entschuldigte sich wie eine Musterschülerin, die einmal im Leben verschlafen hatte. Sie zog mich zurück auf eine Bank, wo sie gefahrlos gestikulieren konnte. Ich versuchte die Bilder zu erfühlen wie Claire. Dinge, die nicht da waren, vielleicht nicht da sein würden.
»Schau«, sagte sie leise und behielt dabei den Museumswärter im Auge. »Das Gelb kommt auf dich zu, das Blau entfernt sich. Das Gelb dehnt sich aus, das Blau zieht sich zusammen.«
Das Rot, das Gelb, dieser Brunnen aus dunklem Grün – Farben, die sich ausdehnten und zusammenzogen, stille Lachen mit blutenden Rändern, ein Winkel wie eine Faust. Ein Junge und ein Mädchen liefen Arm in Arm an den Gemälden vorbei, als machten sie einen Schaufensterbummel.
»Und siehst du, wie er den Rand vom Rahmen wegnimmt und dadurch einen asymmetrischen Rand schafft?« Sie deutete auf das zitronengelbe Band, das sich auf der linken Seite kringelte.
Wenn ich früher Leute solche Sachen im Museum sagen hörte, hatte ich immer gedacht, sie wollten nur ihre Freunde beeindrucken. Doch hier war Claire, und ich wusste, ihr lag wirklich daran, dass ich die Bilder verstand. Ich betrachtete das Gemälde, den Winkel, das Band. Bei Kandinsky passierte so viel; es schien, als hätten die Rahmen Schwierigkeiten, die Bilder in sich zu behalten.
In einem anderen Ausstellungsraum blieb Claire vor einer Reihe von Bleistiftentwürfen stehen. Linien, Winkel und Kreise, wie Zahnstocher und Plättchen vom Flohhüpfen. Wie das, was man in Gedanken vor sich hin kritzelt, wenn man telefoniert.
»Siehst du diesen Winkel?« Sie zeigte auf einen spitzen, mit Bleistift gezeichneten Winkel und deutete dann hinüber zu der gewaltigen Komposition, auf die alle Bleistiftskizzen und Ölstudien hinführten. »Siehst du es?« Der Winkel dominierte die Leinwand.
Sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf verschiedene Elemente der Bleistiftskizzen, Kreise, Bögen, und ich fand sie in der fertigen Komposition wieder, in leuchtendem Rot und tiefem Blau. Er hatte die einzelnen Elemente alle schon von Anfang an im Kopf gehabt. Jede Skizze enthielt einen Teil der Gesamtidee, wie eine Reihe Zahlencodes, die man alle zusammen einstellen musste, um einen Safe zu öffnen. Wenn ich sie übereinander legen und sie gegen das Licht halten könnte, würde ich die Form der vollendeten Komposition sehen. Sprachlos angesichts dieser Vorstellung starrte ich die Bilder an.
Wir gingen Arm in Arm durch die Ausstellung, wiesen einander auf weitere immer wiederkehrende Motive hin, die abstrahierten Reiter, die Türme, die verschiedenen Winkel, der Farbwechsel, wenn eine Form sich mit einer anderen überschnitt. Was mir vor allem Ehrfurcht einjagte, war der Sinn für Ordnung, eine Vision, die über die Zeit hinweg beibehalten wurde.
Ich setzte mich auf eine Bank, holte meinen Zeichenblock heraus und versuchte die Grundelemente nachzuzeichnen. Spitze Winkel, Bögen – wie das Laufwerk einer Uhr. Es war unmöglich. Ich brauchte Farben, ich brauchte Pinsel und Tinte. Ich wusste gar nicht, was ich alles brauchte.
»Stell dir bloß vor, wie viel Arbeit dahinter steckt, all das hier an einem Ort zusammenzutragen«, sagte Claire. »All die Jahre, die es dauert, bis man die verschiedensten Leute davon überzeugt hat, ihre Kunstwerke zur Verfügung zu stellen.«
Ich stellte mir Kandinskys Geist vor, über die ganze Welt verteilt und dann wieder geballt. Jeder besaß nur einen Teil des Puzzles. Allein in einer Ausstellung wie dieser konnte man das Ganze sehen, die Teile aufeinander legen und sie gegen das Licht halten; sehen, wie alles
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