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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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er. Ich konnte ihn riechen. Entweder hatte er sich selbst bepisst, oder jemand anders hatte ihm die Ehre erwiesen. »Doch das kümmert ja keinen.«
    »Manche Leute kümmert es«, sagte Claire. Die Spätnachmittagssonne ließ ihr dunkles Haar an den Rändern rötlich scheinen.
    »Sie sind ein wirklich guter Mensch«, sagte er. »Sind jetzt leider nicht mehr in Mode. Maschinen, das wollen sie alle bloß.« Er atmete ihr jetzt direkt ins Gesicht, doch sie war zu reizend, um ihren Kopf wegzudrehen. Sie wollte ihn nicht beleidigen. Das schienen sie ihr immer ganz genau anzusehen. »Ich meine, wie viele Leute brauchen sie schon, um Burger zu braten?«
    »Nicht genug. Oder vielleicht auch zu viele.« Sie lächelte unsicher und strich sich das windzerzauste Haar aus dem Gesicht.
    Die Ampel wurde wieder grün, doch wir gingen nirgendwohin. Wir standen wie angewurzelt mitten im Menschenstrom an der Kreuzung von Sunset und Cahuenga Boulevard. Die Leute machten einen großen Bogen um uns wie um ein Schlagloch im Bürgersteig.
    Er trat näher und senkte vertraulich die Stimme: »Sehen Sie mich als Mann?« Er schob die Zunge durch die Lücke, wo ihm ein Zahn fehlte.
    Sie wurde rot, zuckte peinlich berührt mit den Schultern. Natürlich tat sie das nicht. Ich hätte ihn am liebsten vom Bordstein geschubst.
    »Früher standen die Frauen total auf mich. Als ich noch gearbeitet hab.«
    Ich konnte die Anspannung auf ihrem Gesicht sehen; am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen, doch sie wollte seine Gefühle nicht verletzen. Sie drehte und wand den Umschlag mit den DIN - A 4-Hochglanzfotos, für die sie gerade eben hundert Dollar bezahlt hatte. Eine schwarze Corvette, aus der laute Rap-Musik schallte, fuhr vorbei.
    »Sie sind eine nette Frau, doch Sie würden sich für mich nicht ausziehen, oder?«
    Sie knickte ihre Fotos im Umschlag hin und her, ihr sensibles Gesicht zitterte vor widerstreitender Empfindungen. »Ich…«, murmelte sie.
    »Ich mach Ihnen keinen Vorwurf. Doch Sie würden’s nicht tun, oder?« Er sah so traurig aus.
    Ich nahm sie am Arm. »Komm jetzt, Claire, wir müssen gehen.«
    Doch sie war zu sehr von dem Obdachlosen gefangen, der sein Psychospielchen mit ihr trieb. Sie saß in seiner Falle fest.
    »Die Frauen fehlen mir«, sagte er. »Wie sie gerochen haben. Das vermisse ich. So wie Sie, was immer Sie da aufgelegt haben.«
    Sie trug ihr L’Air du Temps, so fehl am Platz wie eine Wildblume auf einem Schlachtfeld. Ich war überrascht, dass er ihren Duft durch seinen eigenen Gestank hindurch riechen konnte.
    Doch ich wusste, was er meinte. Auch ich liebte ihren Geruch. Ich saß liebend gern auf ihrem Bett, während sie mein Haar kämmte und flocht. Ich konnte da so lange sitzen, wie sie wollte, und nur die Luft einatmen, die sie umgab.
    »Danke«, hauchte sie. Das war Claire, sie hatte immer Angst, die Gefühle von irgendjemandem zu verletzen, selbst von diesem traurigen alten Penner.
    »Darf ich mal an Ihrem Haar riechen?«, fragte er.
    Sie wurde blass. Sie hatte keine Grenzen. Er konnte alles mit ihr tun; sie wüsste nicht, wie sie ihn aufhalten sollte.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er und hielt seine Hände empor, die dick verhornten Fingernägel. »Hier sind doch ganz viele Leute. Ich werde Ihnen schon nichts tun.«
    Sie schluckte und nickte, schloss die Augen, während der Mann näher kam, zärtlich eine Strähne ihres dunklen Haares mit den Fingerspitzen hochhob, als sei es eine Blume, und den Duft einatmete. Sie wusch sich die Haare mit Rosmarin- und Nelkenshampoo. Das Lächeln auf seinem Gesicht.
    »Ich danke Ihnen«, flüsterte er und ging langsam rückwärts, ohne sich umzudrehen, ließ sie an der Kreuzung Cahuenga und Sunset stehen, die Augen geschlossen und den Umschlag an sich gepresst, der die Fotos eines völlig anderen Menschen enthielt.
    Claire nahm mich mit in die Kandinsky-Ausstellung im L.A. County Museum of Art. Abstrakte Kunst hatte mir noch nie gefallen. Meine Mutter und ihre Freunde konnten vor einer Leinwand, auf der nur schwarz-weiße Nadelstreifen oder ein großes rotes Quadrat zu sehen waren, in regelrechte Begeisterungsstürme ausbrechen. Ich mochte lieber Kunst, die etwas darstellte: Cézannes »Kartenspieler«, van Goghs »Stiefel«. Mir gefielen winzige Mughal-Miniaturen und Tuschezeichnungen von Japanischen Krähen, Schilf und Kranichen.
    Doch wenn Claire gern Kandinsky sehen wollte, gingen wir natürlich hin.
    Ich fühlte mich besser, als ich das Museum erreichte,

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