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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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anderen Schauspielern nach dem Drehtag etwas trinken gegangen – oder essen oder sonst irgendwas. Allerdings war es untypisch für sie, sich nicht zu melden. Sie rief sonst sogar an, wenn sie sich nur beim Einkaufen verspätete.
    Ich bereitete das Abendessen vor, Hackbraten, Maisbrot und einen Salat, und dachte, dass sie zu Hause sein würde, wenn das Essen fertig war. Um zwanzig nach acht hörte ich ihr Auto in der Auffahrt. Ich lief ihr entgegen. »Ich habe Abendessen gemacht«, sagte ich.
    Ihre Mascara bildete dunkle Kreise um ihre Augen. Sie lief an mir vorbei ins Badezimmer. Ich hörte, wie sie sich übergab.
    »Claire?«
    Sie kam wieder heraus, legte sich auf die Couch und bedeckte die Augen mit dem Armrücken. Ich zog ihr die Schuhe aus. »Kann ich dir irgendwas bringen? Aspirin? Seven-up?«
    Sie fing an zu weinen, ein tiefes, raues Stöhnen, und wandte den Kopf von mir ab.
    Ich holte ihr Tylenol und ein Glas Soda und sah dabei zu, wie sie es in kleinen Schlucken trank. »Essig. Auf einem Waschlappen.« Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Weißen Essig. Wring den Lappen aus!« Ihre Stimme war rau wie Sandpapier. »Und mach die Lichter aus!«
    Ich schaltete die Lampen aus, tränkte einen Waschlappen in Essig, wrang ihn aus und brachte ihn ihr. Ich traute mich nicht zu fragen, was passiert war.
    »Siebzehn Takes«, sagte sie und legte sich den Waschlappen über Stirn und Augen. »Weißt du, wie lange das dauert? Und hundert Leute, die auf dich warten! Nie, nie wieder werde ich spielen!«
    Ich hielt ihr die Hand, saß auf dem Boden neben ihrer hingestreckten Gestalt im dunklen, nach Essigdämpfen riechenden Zimmer. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war so, als sehe man jemanden, den man liebt, auf eine Landmine treten und die Stücke durch die Luft fliegen. Man wusste nicht, was man mit den Stücken anfangen sollte.
    »Leg Leonard Cohen auf«, flüsterte sie. »Das erste Album, mit ›The Sisters of Mercy‹.«
    Ich fand das Album, das mit Cohens spitzem Gesicht auf der Hülle, ein Heiliger, der sich aus den Flammen im Hintergrund erhebt, und legte den Song auf. Ich setzte mich neben sie, drückte ihre Hand fest an meine Wange. Seine traurige Singsangstimme leierte klagend das Lied über die »Sisters of Mercy«, die Barmherzigen Schwestern, wie sehr er hoffe, sie würden auch uns eines Tages über den Weg laufen.
    Nach einiger Zeit hörte sie auf zu weinen; ich glaube, sie war eingeschlafen.
    Nie zuvor hatte ich mich so um jemanden gesorgt, dass ich seine Schmerzen fühlen konnte. Es machte mich ganz krank, dass sie Claire so etwas antun konnten und ich nicht dabei gewesen war, um ihr zu sagen: »Komm, hauen wir ab! Du brauchst das hier nicht zu machen.«
    »Ich liebe dich, Claire«, sagte ich leise.
    Eines Abends ging ich zum Kunstunterricht, und wir warteten auf Ms. Day, doch sie tauchte nicht auf. Eine der älteren Damen fuhr mich nach Hause. Ich öffnete die Tür, die mit einem Weihnachtskranz aus kleinen kandierten Birnen und Porzellan-Tauben geschmückt war, und erwartete eigentlich, Claire im Wohnzimmer anzutreffen, wo sie eine ihrer Zeitschriften las und Musik hörte, doch sie war nicht da.
    Ich fand sie auf meinem Bett; sie saß im Schneidersitz und las in den Papieren meiner Mutter. Briefe aus dem Gefängnis, ihre Tagebücher, persönliche Notizen, alles war um sie herum ausgebreitet. Sie sah blass aus; ganz versunken in die Papiere, kaute sie auf dem Nagel ihres Ringfingers herum. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich war empört, ich war erschrocken. Sie hätte diese Sachen nicht lesen sollen. Ich wollte sie voneinander getrennt halten. Ich wollte nicht, dass sie irgendetwas mit meiner Mutter zu tun hatte; nichts, was ich nicht genau kontrollieren konnte. Und jetzt war sie hingegangen und hatte einfach den Karton geöffnet. Wie Pandora die Büchse. Und alles Böse herausgelassen. Alle waren sie immer so fasziniert von Ingrid Magnussen. Ich spürte, wie ich schon wieder in ihren Schatten trat. Das waren meine Sachen. Ja, noch nicht einmal meine. Ich hatte ihr vertraut.
    »Was machst du da?«
    Sie fuhr zusammen und ließ das Heft fallen, in dem sie gelesen hatte. Ihr Mund öffnete sich, um etwas zu erklären, schloss sich dann wieder. Öffnete sich wieder. Kein Ton kam heraus. Wenn etwas sie aus der Fassung brachte, konnte sie keinen Mucks sagen. Sie versuchte, die Gegenstände des Anstoßes mit zitternden Händen einzusammeln, doch sie hatten zu viele verschiedene Größen

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