Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
ein, wo kein Atem mehr war. Sie war so blass. Kalt. Ich hielt ihre kühlen, etwas rissigen Hände, den zu weiten Ehering. Drehte sie um, küsste die kalten Handflächen, meine Lippen auf ihre Handlinien gepresst. Wie sie sich wegen dieser Linien gegrämt hatte. Eine begann an ihrer Handkante und kreuzte die Lebenslinie. Ein tödlicher Unglücksfall hieß das, hatte sie gesagt. Ich rieb mit meinem Daumen über die Linie, glitschig vor Tränen.
    Ein tödlicher Unglücksfall. Der Gedanke war beinahe unerträglich, aber möglich war es. Vielleicht hatte sie es gar nicht vorgehabt. So hätte Claire das nicht geplant! Sie hatte sich noch nicht mal die Haare gewaschen. Sie hätte es besser vorbereitet, alles wäre perfekt gewesen. Sie hätte eine Nachricht hinterlassen, in der sie alles auf zwei oder fünf verschiedene Weisen erklärte. Vielleicht hatte sie nur schlafen wollen.
    Ich lachte, bitter wie eine Tollkirsche. Vielleicht war es wirklich nur ein Unglücksfall. Was war schon kein Unglücksfall? Wer war kein Unglücksfall?
    Ich hob das eckige weiße Gläschen auf, das immer noch halb voll Tabletten war. Butabarbitol Sodium, 100 mg. Es leuchtete förmlich in meinen Händen. Immer passierte das Schlimmste. Wieso vergesse ich das jedes Mal wieder? Jetzt sah ich, dass es nicht nur ein Gläschen war, es war eine Tür. Man stieg durch den runden Flaschenhals und kam ganz woanders heraus. Man konnte entkommen. Den Löffel abgeben.
    Ich schaute tief in das Glas mit den rosa Pillen. Ich wusste, wie man es machen muss. Man muss sie langsam einnehmen. Nicht wie in den Filmen, wo sie immer eine ganze Hand voll einwerfen. Dann kotzt man sie nur wieder aus. Der Trick ist, eine zu nehmen, ein paar Minuten abzuwarten, dann die nächste. Zwischendurch etwas Sherry trinken. Eine nach der anderen. Nach ein paar Stunden verliert man das Bewusstsein, und es ist vorbei.
    Im Haus war es still. Ich konnte die Uhr auf dem Nachttisch ticken hören. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben wehte frische Luft herein. Sie lag mit offenem Mund auf dem geblümten Kissen, in ihrem roten Bademantel in der Helligkeit des Morgens. Ich rieb meine Wange an ihrem Bademantel, dem Bademantel, den Ron ihr geschenkt hatte; sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr ausgezogen. Gott, wie ich diesen Bademantel hasste, sein fröhliches rotes Karo. Es war viel zu grell für sie. Er hatte sie nie richtig gekannt.
    Ich verschloss das Pillenglas wieder mit dem Deckel und ließ es auf das Bett fallen. Als Allererstes musste ich diesen Bademantel loswerden. Es war das Mindeste, was ich tun konnte. Ich zog die Bettdecke herunter. Der Bademantel war völlig verdreht und bildete auf ihrem Rücken einen Wulst. Ich öffnete den Gürtel und zog sie aus dem Mantel. Wie dünn sie war, wie leicht; man konnte alle Rippen einzeln sehen. Ich bettete sie vorsichtig wieder zurück, ganz vorsichtig, ich konnte sie kaum anschauen. In ihrer muschelfarbenen Unterwäsche sah sie aus wie Christus. In der Kommode fand ich einen weichen malvenfarbenen Angora-pullover. Das entsprach schon eher Claire, die zarte Farbe, die flauschige Wolle. Ich presste ihn an mein Gesicht, gierig nach dem weichen Gefühl der Wolle, ließ ihn meine Tränen aufsaugen. Dann richtete ich sie auf. Es war ziemlich schwierig, ich musste sie stützen. Der Duft nach Parfum und ihrem Haar überwältigte mich. Ich konnte kaum atmen, doch irgendwie schaffte ich es, ihr den Pullover über den Kopf zu ziehen, die Arme hindurchzufädeln und die weiche Wolle über ihre knochigen Schulterblätter hinabzuziehen. Ich saß da und umarmte sie, drückte mein Gesicht an ihren Hals.
    Ich bahrte sie auf dem Kissen auf wie eine Märchenprinzessin in ihrem Glassarg; ein Kuss sollte sie wieder zum Leben erwecken. Doch es funktionierte nicht. Ich schloss ihr den Mund, strich die Laken und Decken glatt, fand im Trümmerhaufen die silberne Haarbürste und bürstete ihr das Haar. Es hatte etwas Tröstliches; ich hatte ihr die Haare oft gebürstet, als sie noch lebte. Sie hatte sich noch nicht einmal verabschiedet. Auch meine Mutter hatte an dem Tag, als sie mich verließ, nicht zurückgeblickt.
    Ich wusste, dass ich Ron anrufen musste. Doch ich wollte sie nicht mit ihm teilen. Ich wollte sie noch ein bisschen länger für mich allein haben. Wenn Ron käme, würde ich Claire zum letzten Mal verlieren. Er kannte sie nicht richtig, er konnte gefälligst warten.
    Es wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen: Ich

Weitere Kostenlose Bücher