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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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konnte es nicht ertragen, das Telefon klingeln zu lassen, selbst wenn sie wusste, dass es nicht für sie sein würde. Es könnte ein Job sein, auch wenn sie längst aufgehört hatte, zu den Vorsprechterminen zu gehen. Es könnte eine Freundin sein, auch wenn sie keine Freundinnen mehr hatte. Sie ließ sich stets in lange, verzwickte Gespräche mit Telefonverkäufern, Maklern oder Baufirmen verwickeln.
    Ich konnte nicht verstehen, dass sie einfach weg sein konnte. Was passierte mit ihrer ganz besonderen Art, ein Einmachglas zu öffnen, wie ein Orchesterschlagzeuger, der den Triangel schlug, in einer einzigen, präzisen Handbewegung? Den rötlichen Lichtreflexen auf ihrem Haar im Sommer? Ihrer Tante, die in Ypres gedient hatte? Ich war diejenige, die jetzt die Erinnerungen trug wie einen Arm voller Schmetterlinge. Wer sonst wusste, dass sie Spiegel auf das Dach hängte oder dass ihre Lieblingsfilme »Doktor Schiwago« und »Frühstück bei Tiffany« waren, dass ihre Lieblingsfarbe Indigoblau war? Ihre Glückszahl war die Zwei. Die Sachen, die sie partout nicht essen mochte, waren Kokosnuss und Marzipan.
    Ich musste an den Tag denken, an dem sie mich zu Cal Arts begleitet hatte. Ich fühlte mich durch die Studenten eingeschüchtert; für Leute mit witzigen Haarschnitten kamen sie mir ziemlich eingebildet vor, und ihre Arbeiten waren scheußlich. Dorthin zu gehen kostete zehntausend Dollar im Jahr. »Mach dir keine Gedanken um das Geld«, hatte Claire gesagt. »Das ist die Akademie, auf die man gehen muss, es sei denn, du willst an die Ostküste.« Wir hatten die Bewerbung im November abgeschickt. Das alles konnte ich jetzt vergessen.
    Ich saß im Schneidersitz neben ihr auf dem Bett, zählte die Pillen in dem Glas. Gegen Schlaflosigkeit. Es gab immer noch eine ganze Menge. Mehr als genug, und der letzte Mensch, der je an mich denken würde, war gegangen. Meine Mutter? Sie wollte nur besitzen. Sie dachte, wenn sie Claire umbringen könnte, bekäme sie mich zurück, um mich noch ein bisschen weiter auszulöschen. Ich spürte den Sog dieses dunklen Kreises, des Flaschenhalses. Es war ein Kaninchenloch. Ich könnte hineinspringen und es hinter mir zubuddeln. Man kann nie wissen, wann die Rettung kommt. Doch ich wusste es. Sie war gekommen, und ich hatte ihr den Rücken gekehrt. Ich hatte sie untergehen lassen. Ich hatte meine Retterin von der Rettungsinsel geschubst. Ich hatte Panik bekommen. Nun erntete ich Verzweiflung.
    Ich saß mit dem Glas in der Hand da und betrachtete das leichte Erröten des Winterhimmels; ein schwaches Rosa kämpfte sich durch den blauen Dunst, drang durch die eckig beschnittenen Äste und herunterhängenden Zweige der Ulme. Der Sonnenuntergang kam jetzt so früh. Sie liebte diese Tageszeit, liebte es, die schöne Melancholie zu spüren, unter der Ulme zu sitzen und in ihre Äste hinaufzuschauen, die sich dunkel vor dem Himmel abhoben.
    Am Ende nahm ich die Pillen nicht. Es erschien mir zu pompös, eine allzu große Geste, arglistig. Ich verdiente es nicht, zu vergessen, dass ich ihr den Rücken gekehrt hatte. Das Vergessen löscht alle Bücher aus. Es war zu einfach. Ich war jetzt die Hüterin der Schmetterlinge. Stattdessen wählte ich Rons Pager-Nummer an, fügte die 999 für Notfall hinzu. Ich setzte mich wieder hin und wartete.
    Ron saß neben mir auf dem Bett, seine Schultern hingen durch wie der Rücken eines alten Pferdes, und er presste das Gesicht in die Hände, als könne er den Anblick der Welt nicht mehr ertragen. »Du solltest auf sie aufpassen«, sagte er.
    »Du bist weggegangen.«
    Er schnappte nach Luft und brach in langes, zitterndes Schluchzen aus. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Mitleid mit Ron haben könnte, doch er tat mir Leid. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, und er presste seine Hand auf meine. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn trösten könnte. Ich könnte ihm über das Haar streichen und sagen: »Es ist nicht deine Schuld. Sie hatte Probleme, bei denen wir ihr nicht helfen konnten, egal, was wir auch getan hätten.« Das hätte Claire wahrscheinlich gesagt. Ich könnte ihn dazu bringen, mich zu lieben. Vielleicht würde er mich dann dabehalten.
    Er hielt meine Hand und starrte auf ihre seidenen Pantoffeln neben dem Bett. »Davor habe ich schon seit Jahren Angst gehabt.«
    Er drückte meine Hand an seine Wange. Ich spürte, wie mir seine Tränen über den Handrücken liefen, zwischen meine Finger rannen. Wäre Claire nicht tot gewesen, hätte sie Mitleid

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