Weisser Oleander
ob ich mich dort bewerben wollte, und mir sogar das Anmeldeformular besorgt hatte. Wie sie mich überredet hatte, zusätzliche Kurse in der Schule zu belegen, mir bei den Hausaufgaben geholfen hatte, mich jeden Dienstagabend ins Museum gefahren hatte. Wenn ich überhaupt eine Zukunft hatte, dann nur, weil sie sie mir gegeben hatte. Doch dann sah ich sie wieder vor mir, wie sie bettelnd auf dem Boden herumkroch, und fühlte mich erneut abgestoßen. Astrid, hilf mir. Astrid, sammle die Scherben auf. Wie konnte ich das? Ich hatte mich zu sehr auf sie verlassen. Dieser Tatsache musste ich ins Auge sehen.
Ich las eine Zeit lang in einem Buch über Kandinsky, probierte einige seiner Ideen über Form und Spannung aus. Wie die Spannung in einer Linie anstieg, wenn sie sich dem Rand näherte. Ich versuchte, das Geleier der Leonard-Cohen-Platte zu überhören. Claire musste inzwischen eingeschlafen sein. Sie sollte ruhig ihren Rausch ausschlafen.
Ich zeichnete, bis es dunkel wurde, dann schaltete ich das Licht ein und drehte die Pyramide, die über meinem Schreibtisch hing, diese lächerliche Pyramide, die meine Mutter Claire aufgeschwatzt hatte. Als ich das Kandinsky-Buch zuklappte, fiel mir automatisch die Widmung ins Auge: Für Astrid mit all meiner Liebe, Claire .
Es durchfuhr mich wie ein Kurzschluss, der meinen kindischen Widerwillen lahm legte. Wenn mir irgendetwas Gutes widerfahren war, dann nur durch Claire. Wenn ich mich auch nur eine Sekunde lang für wertvoll halten konnte, dann nur, weil Claire es mich hatte glauben lassen. Wenn ich überhaupt eine Zukunft ins Auge fassen konnte, dann nur, weil sie daran glaubte, dass es für mich eine Zukunft gab. Claire hatte mir die Welt zurückgegeben. Und was machte ich, jetzt, wo sie mich brauchte? Verbarrikadierte meine Fenster, hortete Proviant, rollte den Stacheldrahtzaun aus.
Ich stand auf und ging zu ihrem Schlafzimmer. »Claire!«, rief ich durch die geschlossene Tür. Ich drückte die Klinke herunter, doch die Tür war verschlossen. Sie schloss nie ab, außer wenn sie und Ron Sex hatten. Ich klopfte. »Claire, alles in Ordnung mit dir?«
Ich hörte, wie sie etwas sagte, konnte es jedoch nicht verstehen.
»Claire, mach auf!« Ich rüttelte an der Türklinke.
Dann hörte ich, was sie sagte: »Tut mir Leid. Es tut mir so Leid. So furchtbar Leid.«
»Bitte mach auf, Claire! Ich möchte mit dir sprechen.«
»Geh, Astrid.« Ihre Stimme klang beinahe bis zur Unkenntlichkeit betrunken. Das wunderte mich. Ich hätte erwartet, dass sie inzwischen entweder etwas nüchterner sein würde oder eingeschlafen war. »Ich rate dir: Halte dich fern von allen gebrochenen Menschen.« Ich hörte ihr trockenes Schluchzen, halb Würgen, halb Lachen; es drang wie eine Art Summen durch die Tür.
Beinahe hätte ich gesagt, du bist nicht gebrochen, du machst nur gerade eine schlimme Phase durch. Doch ich konnte es nicht. Sie wusste es. Irgendetwas stimmte mit ihr ganz und gar nicht, irgendwo tief drinnen. Sie war wie ein großer Diamant mit einer toten Stelle in der Mitte. Ich hätte Leben in diese tote Stelle hauchen sollen, doch es hatte nicht funktioniert. Sie würde Ron anrufen, wo auch immer er gerade steckte, und sagen: Du hattest Recht, schick sie wieder zurück. Ich kann ohne dich nicht leben.
»Du kannst mich nicht zurückschicken«, sagte ich.
»Deine Mutter hatte Recht«, sagte sie lallend. Ich hörte Sachen zu Boden fallen. »Ich bin eine Idiotin. Ich kann mich noch nicht mal selbst leiden.« Meine Mutter. Die alles noch schlimmer machte. Ich hatte alle Briefe zurückgeschickt, die ich finden konnte, doch es musste noch weitere gegeben haben.
Ich setzte mich auf den Boden. Ich fühlte mich wie ein Unfallopfer, das sein herausquellendes Inneres festhält. Plötzlich wurde ich von dem Drang überwältigt, in mein Zimmer zurückzugehen, mich ins Bett fallen zu lassen, in die frische Bettwäsche, und zu schlafen. Doch ich kämpfte dagegen an und versuchte, mir irgendetwas einfallen zu lassen, das ich durch die Tür sagen konnte. »Sie kennt dich doch gar nicht.«
Ich hörte ihr Bett quietschen; sie stand auf und stolperte zur Tür. »Er kommt nicht zurück, Astrid.« Jetzt stand sie direkt auf der anderen Seite der Tür. Ihre Stimme fiel von Stehhöhe auf Sitzhöhe, als sie durch den Türspalt sprach. »Er wird sich von mir scheiden lassen.«
Das hoffte ich. Dann hätte sie vielleicht eine Chance; wir beide zusammen. Wir würden es langsam angehen lassen; kein Ron mehr,
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