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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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hatte direkt neben ihr gelegen, als sie starb. Wenn ich nur aufgewacht wäre. Wenn ich nur vorausgesehen hätte, was passieren konnte. Meine Mutter hatte mir immer gesagt, ich hätte keine Fantasie. Claire hatte mich gerufen, und ich war nicht zu ihr gegangen. Hatte ihr noch nicht einmal die Tür öffnen wollen. Ich hatte ihr erzählt, das Schlimmste sei, seine Selbstachtung zu verlieren. Wie hatte ich nur so etwas sagen können? Himmel noch mal, das war nicht das Schlimmste, bei weitem nicht.
    Draußen im Garten war das Gras nicht gemäht, aber sehr grün in der klaren Wintersonne. Die Chinesische Ulme ließ ihre Äste hängen wie eine Trauerweide. Die Zeit der Blumenzwiebeln war schon vorbei, doch die Rosen blühten wie toll, das rote, halluzinatorische Leuchten der Mr. Lincolns, der blassrosa Hauch der Pristinen. Der Boden unter den Rosenbüschen war mit roten und weißen Blütenblättern bedeckt. Hier im Zimmer war die Luft durchdrungen vom L’Air du Temps aus dem Flakon, den ich zerbrochen hatte. Ich hob den Verschluss auf, die beiden Vögel aus Milchglas. Jetzt sahen sie aus wie eine Verzierung für einen Grabstein.
    In einer Schublade fand ich das Buch mit den gepressten Blumen, die sie diesen Sommer auf unseren Spaziergängen am McKenzie gesammelt hatte. Wie glücklich sie gewesen war in ihrem chinesischen, unter dem Kinn gebundenen Hut, mit ihrer Segeltuchtasche voller Entdeckungen! Hier waren sie, beschriftet in ihrer runden, weiblichen Handschrift, auf Blätter gepresst, die von braungrauen, grob gerippten Seidenbändern zusammengehalten wurden: Frauenschuh, Hartriegel, Wildrose und Rhododendron mit seinen fadenförmigen Staubgefäßen.
    Was möchtest du gern, Astrid? Was denkst du? Niemand würde mir je wieder diese Fragen stellen. Ich streichelte ihre Haare, ihre dunklen Augenbrauen, ihre Lider, das zarte Gebilde von Wangenknochen, Augenhöhle, Schläfe und Braue, ihr Kinn, spitz zulaufend wie ein umgedrehter Wassertropfen. Wäre ich nur sofort zu ihr gegangen. Hätte ich sie nur nicht warten lassen. Ich hätte sie nie allein lassen dürfen mit unserem Abscheu, Rons und meinem. Es war genau das, was sie nicht ertragen konnte: allein gelassen zu werden.
    Um zehn Uhr kam die Post. Um elf übte Mrs. Kromach nebenan auf ihrer elektrischen Orgel, begleitet vom Gekrächze ihres Papageis. Ich kannte ihr gesamtes Repertoire: »Zip-a-Dee-Doo-Dah«, »There’s no Business like Show Business«, »Chattanooga Choo Choo«. Sie liebte die Hymnen der US -Bundesstaaten: »Gary, Indiana«, »Iowa Stubborn«, »California, Here I come«, »Everything’s Up to Date in Kansas City«. Sie spielte jedes Mal wieder dieselben Noten falsch. »Sie macht es extra, um uns in den Wahnsinn zu treiben«, hatte Claire immer gesagt. »Sie weiß ganz genau, wie man diese Lieder richtig spielt.« Jetzt würde sie es sich nie mehr wieder anhören müssen.
    Gegen Mittag dröhnte ein Laubgebläse. Um eins entließ der Orthodoxe Kindergarten seine Kinder. Ich konnte die schrillen Stimmen auf der Straße hören, das fröhliche Gejammer der chassidischen Nachbarinnen in ihrer gutturalen Sprache. Was sie dir für eine Angst eingejagt haben, Claire, diese einfachen Frauen in den langen Röcken mit ihrer zahllosen Nachkommenschaft, den arroganten Söhnen und großen, einfältigen Töchtern, die stark genug waren, einen Truck hochzuheben, aber Schleifen in den Haaren trugen und schüchtern daherschnatterten. Du dachtest immer, sie wollten dich verhexen. Ich sollte mir die Hand blau anmalen und sie auf den weißen Stuck über der Türklingel drücken, um ihren bösen Blick zu bannen.
    Mein Knie berührte ihres, fuhr zurück. Ihr Bein war ganz steif. Sie war jetzt weit weg, sie durchschritt die sieben irdischen Sphären und fuhr empor zu Gott. Ich ließ meine Finger über die hübsche Stupsnase gleiten, über die glatte Stirn, die leichte Einbuchtung an der Schläfe, wo kein Puls mehr flatterte. Nie hatte sie vollständiger, nie selbstsicherer gewirkt als jetzt, wo sie nicht mehr versuchte, irgendjemandem zu gefallen.
    Sie hatte mich geliebt, aber jetzt kannte sie mich nicht mehr.
    Von 13.45 bis 16.15 Uhr klingelte das Telefon fünfmal. Sie hatte ihren Friseurtermin bei Emile verpasst. Zweimal wurde aufgelegt. Rons Freunde trafen sich auf einen Drink bei Cava. MCI wollte den Richards eine Ermäßigung bei ihrer Telefonrechnung geben. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, erwartete ich irgendwie, dass Claire wach werden und drangehen würde. Sie

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