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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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der nach Hause kam, Angst hinter sich herzog, Hoffnung verkaufte, sie an Weihnachten allein ließ und genau dann wiederkam, wenn sie sich gerade daran gewöhnt hatte, dass er weg war. Es wäre prima. Keine Heucheleien mehr, kein Belauschen seiner Telefongespräche mit angehaltenem Atem.
    »Claire, weißt du, es wäre nicht das Schlimmste …«
    Sie lachte wirr. »Siebzehn Jahre alt! Sag mir, Kleines, was ist das Schlimmste?«
    Die Holzmaserung der Tür war ein Labyrinth, dem ich mit meinem Fingernagel folgte. Ich wollte am liebsten sagen: Wie wär’s mit einer Mutter im Gefängnis – und dem einzigen Menschen, den du liebst und dem du vertraust, kurz davor, durchzudrehen? Wie wäre es, an der besten Stelle untergebracht zu sein, die du je hattest, und sie reden davon, dich wieder zurückzuschicken?
    Doch andererseits hätte ich gar nicht Claire sein wollen. Lieber war ich ich selbst; ja, ich wäre sogar lieber meine Mutter gewesen, lebenslang im Gefängnis, voll ohnmächtiger Wut, als Claire zu sein mit ihrer Furcht vor Einbrechern und Vergewaltigern und ihrem »Kleine Zähne bedeuten Unglück und Meine Augen passen nicht und Töte den Fisch nicht und Liebt mein Ehemann mich noch, hat er mich überhaupt je geliebt oder bloß gedacht, ich wäre jemand anders, und ich kann das Bild nicht mehr aufrechterhalten«.
    Ich hätte sie gern umarmt, doch irgendetwas in mir schob sie weg. Das ist Claire, die dich liebt, versuchte ich mich zu ermahnen, doch ich konnte es im Moment einfach nicht fühlen. Sie konnte noch nicht mal auf sich selbst aufpassen, und ich merkte, wie ich davontrieb. Ich spürte, dass sie nach meiner Hand griff; sie wollte, dass ich zu ihr kam. Ich glaubte nicht mehr daran, dass ich sie retten konnte. Der Weg, dem ich durchs Labyrinth gefolgt war, endete in einem Pfauenauge, war eine Sackgasse. »Meine Mutter würde sagen, das Schlimmste ist, seine Selbstachtung zu verlieren.«
    Ich hörte, wie sie wieder zu weinen anfing. Scharfe, schmerzhafte Schluchzer, die ich in meiner eigenen Kehle spüren konnte. Sie schlug mit der Faust gegen die Tür – oder vielleicht war es auch ihr Kopf. Ich konnte es nicht ertragen; ich musste mich in Lügen flüchten.
    »Claire, du weißt, dass er zurückkommen wird. Er liebt dich, mach dir keine Sorgen.«
    Es war mir egal, ob er zurückkam oder nicht. Er wollte mich ohnehin nur wegschicken, und deswegen konnte er von mir aus ruhig seinen klassischen grauen Alfa Romeo – passend zu seinem grauen Haar – zu Bruch fahren.
    »Wenn ich wüsste, was Selbstachtung ist«, hörte ich sie sagen, »dann wüsste ich vielleicht auch, ob ich sie verloren habe.«
    Ich war so schläfrig, dass ich kaum die Augen offen halten konnte. Ich lehnte den Kopf an die Tür. Im Wohnzimmer blinkte die Weihnachtsbaumbeleuchtung, an und aus; die Nadeln sammelten sich auf den ungeöffneten Geschenken.
    »Möchtest du was essen?«
    Sie wollte nichts.
    »Ich hole mir nur eben was zu essen. Bin gleich wieder da.«
    Ich machte mir ein Schinkenbrot. Überall auf dem Boden waren Tannennadeln. Sie knirschten unter den Füßen. Die Sherryflasche war verschwunden, sie musste sie mitgenommen haben. Sie würde den Kater ihres Lebens bekommen. Mein Bild hatte sie auf dem Couchtisch liegen lassen. Ich nahm es mit in mein Zimmer, stellte es auf den Schreibtisch. Ich schaute in ihre ernsten Augen und konnte hören, wie sie mich fragte: »Was möchtest du, Croissant oder Brioche? Wo würdest du hinwollen, wenn du überall in der Welt hinfahren könntest?« Ich fuhr mit dem Finger über ihre hohe, gewölbte Stirn, wie die einer gotischen Madonna. Ich ging zurück an ihre Tür und klopfte.
    »Claire, lass mich rein.«
    Ich hörte das Quietschen der Bettfedern, als sie sich umdrehte; die Anstrengung, die es sie kostete, aufzustehen und die drei Schritte bis zur Tür zu stolpern. Sie fummelte am Schloss herum. Ich öffnete die Tür, und sie ließ sich zurück aufs Bett fallen, sie trug immer noch den roten Bademantel. Sie wühlte sich unter die Bettdecke wie ein blindes Höhlentier. Gott sei Dank weinte sie nicht mehr; sie war kurz davor, wegzutreten. Ich drehte Leonard Cohen ab.
    »Mir ist so kalt«, murmelte sie. »Leg dich zu mir.«
    Ich stieg völlig angekleidet in ihr Bett. Sie legte ihre kalten Füße auf meine, ihren Kopf an meine Schulter. Die Laken rochen nach Sherry, ungewaschenen Haaren und L’Air du Temps.
    »Bleib bei mir, versprich es mir. Verlass mich nicht.«
    Ich hielt ihre kalten Hände, legte meinen

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