Weisser Oleander
mit ihm gehabt. »Ich habe sie so geliebt«, sagte er. »Ich war vielleicht kein Heiliger, aber ich habe sie geliebt. Du kannst es dir nicht vorstellen.«
Er sah mich mit seinen rotgeränderten Augen an; wartete auf meinen Einsatz. Das weiß ich doch, Ron. Claire hätte es gesagt. Auch Olivia spürte ich drängen. Er könnte mich beschützen. Eine Männerwelt .
Doch ich brachte es nicht über mich. Claire war tot. Was spielte es noch für eine Rolle, ob er sie liebte oder nicht?
Ich zog meine Hand weg und stand auf; fing an, einige der Dinge aufzuheben, die ich auf den Boden geworfen hatte. Da war sein Cross-Füller. Ich ließ ihn auf seinen Schoß fallen. »Sie hat ihn die ganze Zeit über gehabt«, sagte ich. »Du hast sie kein bisschen gekannt.«
Er senkte den Kopf, berührte ihr dunkles Haar, das ich gebürstet hatte, strich über den malvenfarbenen Angora-Ärmel. »Du kannst trotzdem bleiben«, sagte er. »Mach dir deswegen keine Sorgen.«
Ich hatte gedacht, dass es genau das wäre, was ich hören wollte. Doch jetzt, nachdem er es gesagt hatte, wusste ich plötzlich, dass ich mich auf dem Sunset Boulevard zwischen all den anderen Rumtreibern besser fühlen würde – selbst wenn ich, eingewickelt in eine bepisste Wolldecke, auf den Stufen der Obdachlosenkirche schlafen und mich von Pizzaresten aus Mülltonnen ernähren müsste. Ohne Claire konnte ich nicht hier bleiben. Ich könnte nie die Sätze sagen, die er hören wollte, mein hübschestes Lächeln aufmalen, auf sein Auto in der Auffahrt lauschen. Mein Gesicht im Kommodenspiegel war scharf und kantig. Er streckte die Hand nach mir aus, doch mein Gesicht war jenseits des Erreichbaren.
Ich wandte mich ab, starrte hinaus in die Nacht und sah unser Spiegelbild in den zerbrochenen Flügeltüren: ich in meinen Klamotten, die ich nun schon seit gestern am Leib hatte, Ron auf dem Bett, Claire auf dem Kopfkissen, gebadet in das Licht der Nachttischlampe, zum ersten Mal völlig gleichgültig.
»Warum konntest du sie nicht einfach mehr lieben?«, sagte ich.
Seine Hand sank herunter. Er schüttelte den Kopf. Niemand wusste, warum. Niemand wusste je, warum.
Das Packen dauerte länger als beim letzten Mal, als ich Amelias Haus verlassen hatte. Da waren all die neuen Kleider, die Claire mir geschenkt hatte, die Bücher, das kleine Dürer-Kaninchen. Ich nahm alles mit. Ich hatte nur einen Koffer; deshalb packte ich den Rest in Einkaufstüten. Ich brauchte sieben Tüten, um alles einzupacken. Ich ging in die Küche, griff in den Gefrierbeutel mit dem Schmuck und nahm den Aquamarinring heraus, der ihr und ihrer Mutter immer zu groß gewesen war. Doch mir passte er gut.
Es war beinahe Mitternacht, als mich eine Sozialarbeiterin in einem Kleinbus abholte, eine weiße Frau mittleren Alters mit Jeans und Perlenohrsteckern. Joan Peeler hatte das Jugendamt letztes Jahr verlassen, um in der Entwicklungsabteilung bei Twentieth Century Fox zu arbeiten. Ron half mir, meine Sachen in den Kleinbus zu tragen. »Es tut mir Leid«, sagte er, während ich einstieg. Er fummelte in seiner Brieftasche herum und drängte mir etwas Geld auf. Zwei Hundert-Dollar-Scheine. Meine Mutter hätte sie ihm ins Gesicht geschleudert, doch ich nahm sie an.
Durch das Heckfenster des Minibusses sah ich das Haus kleiner werden, während wir in die mondlose Nacht fuhren; das Ende dessen, was hätte sein können. Ein kleiner Bungalow unter den riesigen weißen Stämmen der Platanen. Es war mir scheißegal, was jetzt mit mir passierte.
22
Das MacLaren-Kinderheim war in gewisser Weise eine Erleichterung. Das Schlimmste war geschehen. Das Warten war vorbei.
Ich lag in meinem schmalen, niedrigen Bett. Bis auf die zwei Garnituren Kleidung zum Wechseln in der Pressspan-Schublade unter der Matratze waren alle meine Sachen eingelagert worden. Meine Haut brannte. Ich war entlaust worden und roch immer noch nach Teerseife. Alle schliefen, bis auf die Mädchen auf dem Gang; Mädchen, die beaufsichtigt werden mussten, die Selbstmörderinnen, die Epileptikerinnen, die Unkontrollierbaren. Endlich war es still.
Inzwischen fiel es mir leicht, mir meine Mutter auf ihrer Pritsche in Frontera vorzustellen. Im Grunde unterschied uns gar nicht mehr viel. Dieselben Zellenwände, Linoleumböden, die Schatten der Pinien vor den Fenstern und die Umrisse meiner schlafenden Bettnachbarinnen unter ihren dünnen Steppdecken. Es war zu heiß hier drinnen, doch ich öffnete das Fenster nicht. Claire war tot. Was spielte es schon
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