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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Hollywood und sagte, dass er dort immer mal wieder vorbeischauen würde, ob etwas für ihn angekommen sei. »Du brauchst bloß ›Für Paul Trout aufbewahren‹ auf die Briefe zu schreiben.«
    Ich war traurig, als er seine neue Unterbringung zugeteilt bekam, in einer Wohngruppe in Pomona. Seit der Zeit mit Davey war er der erste Junge, mit dem ich wirklich gern zusammen gewesen war, der erste, der sich ungefähr vorstellen konnte, was ich durchgemacht hatte. Wir hatten uns gerade erst etwas besser kennen gelernt, und jetzt war er schon wieder fort. Daran musste ich mich gewöhnen. Jeder verließ einen früher oder später. Als Erinnerung schenkte er mir eine seiner Zeichnungen. Sie zeigte mich als Superheldin in einem engen weißen T-Shirt und zerrissenen Shorts; mein Körper war zweifellos Gegenstand ausgiebiger Beobachtung und intensiven Nachdenkens gewesen. Ich hatte gerade einen Biker-Bösewicht bezwungen, stemmte den Absatz meiner Doc-Martens-Stiefel auf seine blutige nackte Brust und hielt ein rauchendes Gewehr in der Hand. Ich hatte ihn genau durchs Herz geschossen. Ich lasse mich von niemandem berühren, stand in Druckbuchstaben über meinem Kopf.
    Ein paar Tage nachdem Paul weg war, saß ich an einem orangefarbenen Picknicktisch draußen vor dem Wohnheim der Jungen und wartete auf mein Vorstellungsgespräch. Ich fuhr mir mit der Hand durch das kurz geschorene Haar, ließ die Wintersonne meine Kopfhaut wärmen. Die Pflegefamilien sollten eigentlich keinen Schaufensterbummel machen, es sollte eher ein »Sich-Kennenlernen« sein, doch es war wie ein Vorsprechen, und jeder wusste es. Ich machte mir keine Sorgen. Ich wollte gar nicht bei einer Pflegefamilie untergebracht werden. Paul hatte Recht; es gab noch viel Schlimmeres als Mac. Ich wollte mich nie wieder auf jemanden einlassen. Doch niemand durfte auf Dauer im Heim bleiben.
    An einem Tisch unter den großen Pinien fand gerade ein weiteres Vorstellungsgespräch statt, ein Geschwisterpaar. Diese Gespräche waren immer das Schlimmste. Der süße kleine Bruder saß auf dem Schoß der Frau, der ältere Bruder, nicht mehr so süß, pubertierend, mit sprießendem Bartflaum, stand etwas abseits zur Rechten, die Hände in die Taschen gesteckt. Sie wollten nur den kleinen. Der große Bruder versuchte sie davon zu überzeugen, wie verantwortungsbewusst er war, dass er helfen würde, auf den kleinen Kerl aufzupassen, den Müll wegbringen würde, den Rasen mähen … Ich konnte es kaum mit ansehen.
    Ich hatte Dienstag mein erstes Vorstellungsgespräch gehabt. Bill und Ann Greenway aus Downey. Sie waren schon seit Jahren Pflegeeltern. Gerade war eine ihrer Pflegetöchter zu ihren leiblichen Eltern zurückgegangen. Sie hatten drei Jahre lang für sie gesorgt. Bill wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, während er es erzählte; Ann hielt mühsam die Tränen zurück. Ich starrte auf meine Schuhe hinunter, weiße Keds mit blauen Streifen an den Seiten und übergroßen Löchern für die Schnürsenkel. Wenigstens etwas, das für mich sprach: Ich würde kaum in absehbarer Zeit zu meiner Mutter zurückgehen.
    Ich sagte nicht viel. Ich wollte sie noch nicht einmal ansehen. Ich hätte sie gern haben können. Sie waren mir schon sympathisch. Ihre Liebenswürdigkeit machte kleine saugende Geräusche in meine Richtung, wie Wasser in der Badewanne. Es wäre einfach, mit ihnen nach Hause zu gehen. Ich konnte ihr Haus vor mir sehen, hell und gemütlich, in einer Siedlung von hübschen, modernen Fertighäusern, vielleicht mit zwei Stockwerken. Fotos von Kindern auf den Tischen, ein altes Schaukelgerüst im Garten. Die fröhliche High School; selbst ihre Kirche klang einladend, niemand wurde dort fanatisch oder machte sich allzu viele Sorgen um Sünde und Verdammnis. Ich wette, sie redeten ihren Pfarrer mit Vornamen an.
    Ich hätte mit ihnen gehen können, mit Ann und Bill Greenway aus Downey. Bei ihnen hätte ich die Dinge vergessen. Alle Schmetterlinge wären davongeflogen. Gepresste Wildblumen und Bach am Morgen, dunkles Haar auf dem Kissen, Perlen. »Aida« und Leonard Cohen, Mrs. Kromach und Wohnzimmer-Picknicks, Pâté und Kaviar. In Downey wäre es egal gewesen, ob ich Kandinsky kannte, Ypres und die französischen Bezeichnungen für die Ballettschritte. Ich hätte die schwarzen Nähte in der Haut vergessen, die Kugel aus der 38er, die den Knochen zertrümmert hatte, den Geruch nach neugebauten Häusern und das Aussehen meiner Mutter, als sie sie in Handschellen abführten,

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