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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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die merkwürdige Zärtlichkeit, mit der der stämmige Polizist ihr die Hand über den Kopf gehalten hatte, damit sie sich beim Einsteigen in den Streifenwagen nicht den Kopf stieß. Bei Ann und Bill Greenway aus Downey wären diese Dinge verblasst, verschwunden. Amsterdam und Eduardos Hotel, Tee im Beverly Wilshire und Claire, wie sie dagestanden hatte, als dieser Penner an ihren Haaren roch. Nie wieder würde mich aus den Gesichtern der obdachlosen Kinder in den Hauseingängen am Sunset Boulevard mein eigenes Gesicht anblicken.
    »Es wird dir bei uns gefallen, Astrid«, sagte Ann und legte die saubere weiße Hand auf meinen Arm.
    Sie roch nach Jergens Handlotion, ein blasses, süßliches Rosa, nicht L’Air du Temps oder Ma Griffe oder die verschwiegenen Veilchen meiner Mutter, ein Duft, den man aus chemischen Gründen immer nur einen Augenblick lang riechen konnte. Was magst du lieber, Estragon oder Thymian? All das war ein Traum, den man nicht festhalten konnte; man konnte sich nicht von Milchglasvögeln und Debussy abhängig machen.
    Ich sah Bill und Ann Downey an, ihre wohlmeinenden Gesichter, ihre robusten Schuhe; keine unangenehmen Fragen. Bills grauer Bürstenschnitt, sein silbernes Brillengestell, Anns pflegeleichte Kurzhaardauerwelle. Das war etwas Erreichbares, stabil, heimelig und unverwüstlich wie ein Sisalteppich. Ich hätte zugreifen sollen. Trotzdem merkte ich, wie ich mich von ihrer Hand freimachte.
    Es war gar nicht so, dass ich ihnen nicht glaubte. Ich glaubte alles, was sie mir erzählten; sie waren eine Rettung, eine Lösung für meine wichtigsten Bedürfnisse. Doch ich erinnerte mich noch an einen Morgen vor Jahren in einer kastenartigen Kirche in Tujunga, an die Leuchtstofflampen, die angeschlagenen Klappstühle. Starr, betört wie eine Schlange, während Reverend Thomas die Natur der Verdammnis erklärte. Die Verdammten konnten gerettet werden, hatte er gesagt, jederzeit. Aber sie weigerten sich, ihre Sünden aufzugeben. Obwohl sie endlos litten, wollten sie sie nicht loslassen, noch nicht einmal für die Erlösung, für die vollkommene Liebe Gottes.
    Damals hatte ich ihn nicht verstanden. Wenn die Sünder doch so unglücklich waren, weshalb zogen sie es vor zu leiden? Doch inzwischen wusste ich, wieso. Wer war ich schon ohne meine Wunden? Meine Narben waren mein Gesicht, meine Vergangenheit war mein Leben. Es war nicht so, dass ich nicht wusste, wohin einen all diese Erinnerungen brachten, all dieser Hunger nach Schönheit, überraschender Grausamkeit und überall lauerndem Verlust. Doch ich wusste, dass ich nie mit einem schwierigen persönlichen Problem zu Bill gehen würde, einem Jungen, der mich zu sehr mochte, einem Lehrer, der mich ungerechterweise gerügt hatte. Ich hatte schon mehr von der Welt gesehen, von ihrer Schönheit, ihrem Elend und ihren Überraschungen, als die beiden sich je vorstellen konnten.
    Und ich wusste noch etwas: dass Menschen, die sich selbst oder ihre Herkunft verleugneten, in großer Gefahr waren. Sie waren Schlafwandler, die mit geschlossenen Augen über ein Drahtseil liefen und mit den Fingern in dünne Luft griffen. Deshalb ließ ich sie ziehen, stand auf und ging weg, wohl wissend, dass ich etwas aufgegeben hatte, das ich nie wieder bekommen würde. Nicht Ann und Bill Greenway, aber die Illusion, dass ich gerettet werden könnte, dass ich noch einmal von vorn anfangen könnte.
    Daher saß ich nun wieder an dem Picknicktisch und wartete auf mein nächstes Vorstellungsgespräch. Ich sah sie auf mich zukommen, eine dürre Brünette mit dunkler Sonnenbrille, sie nahm eine Abkürzung über den nassen Rasen, bohrte ihre hohen Absätze in den gerade gewässerten Boden, völlig ungerührt, dass sie dadurch die Grasnarbe beschädigte. Ihre silbernen Ohrringe glitzerten in der Januarsonne wie Fischköder. Der Pullover rutschte ihr über eine Schulter herunter und enthüllte einen schwarzen BH -Träger. Sie verlor einen Schuh, die Erde saugte ihn ihr förmlich vom Fuß. Sie hüpfte auf einem Bein zurück und quetschte ihren nackten Fuß wütend hinein. Da wusste ich schon, dass ich mit ihr gehen würde.

23

    Sie hieß Rena Grushenka. Eine Woche später holte sie mich in ihrem weißgetünchten Econoline Van ab. Auf dem Heckfenster klebte ein »Grateful Dead«-Sticker; ein Blitz teilte den halb roten, halb blauen Totenschädel wie ein schwerer Kopfschmerz in der Mitte. Es war kalt und regnerisch, der Himmel eine einzige trübgraue Wolke. Es gefiel mir, wie sie auf dem

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