Weisser Oleander
für eine Rolle, ob es zu heiß war?
Ich strich mit der Handfläche über die pelzigen Spitzen meiner kurzen Haare. Ich war froh, dass ich sie mir abgeschnitten hatte. Eine Mädchengang hatte mich zweimal verprügelt, einmal in der Grünanlage und einmal, als ich aus der Turnhalle kam, weil der Freund von irgendeiner mich gut aussehend fand. Ich wollte nicht hübsch aussehen. Ich lag in meinem Bett, betastete die blauen Flecken auf meiner Wange, die sich von violett zu grün verfärbten, und betrachtete die Schatten der Pinien hinter der Gardine; sie tanzten im Wind wie balinesische Schattenspielfiguren hinter einem Wandschirm zur Gamelan-Musik.
Gestern Morgen hatte ich einen Anruf von Ron bekommen. Er wollte ihre Asche zurück nach Connecticut bringen und bot mir an, mein Flugticket zu bezahlen, falls ich mitkommen wolle. Ich wollte nicht sehen, wie Claire ihrer Familie übergeben wurde – noch mehr Leuten, die sie gar nicht kannten. Ich konnte nicht einfach bei der Gedenkfeier herumstehen und so tun, als wäre ich eine Fremde. »Sie hat mich auf den Mund geküsst«, hätte ich ihnen erzählt.
»Du hast sie kein bisschen gekannt«, hatte ich zu Ron gesagt. Sie wollte nicht verbrannt werden; sie wollte begraben werden mit ihren Perlen im Mund und einem Edelstein auf jedem Auge. Ron hatte nie gewusst, was sie wollte; er hatte immer nur geglaubt, er wisse, was das Beste für sie sei. Du solltest auf sie aufpassen . Er hatte genau gewusst, dass sie selbstmordgefährdet war, als er mich aufnahm. Deshalb war ich engagiert worden. Ich war die Suizid-Wache, ganz und gar nicht das Baby.
Die Schatten der Pinien glitten über meine Decke, über die Wand hinter mir. Menschen sind genauso. Wir können uns noch nicht einmal gegenseitig sehen, wir sehen nur unsere Schatten, die sich bewegen, vorwärtsgetrieben von unsichtbaren Winden. Welchen Unterschied machte es schon, ob ich hier war oder irgendwo anders? Ich konnte sie nicht wieder lebendig machen.
Ein Mädchen draußen auf dem Gang stöhnte. Eine meiner Zimmernachbarinnen drehte sich um und murmelte etwas in ihre Decke. All die schlechten Träume. Genau hier passte ich hin. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht fehl am Platz. Selbst als ich noch mit meiner Mutter zusammen gewesen war, hatte ich immer den Atem angehalten und darauf gewartet, dass irgendetwas passieren würde, dass sie nicht nach Hause zurückkommen, dass irgendeine Katastrophe geschehen würde. Ron hätte mir Claire nie anvertrauen dürfen. Sie hätte besser ein kleines Kind bekommen, jemanden, für den es sich lohnte, am Leben zu bleiben. Sie hätte merken müssen, dass ich ein Unglücksbringer war; sie hätte sich nie auf mich verlassen dürfen. Ich war meiner Mutter ähnlicher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und selbst dieser Gedanke erschreckte mich nicht mehr.
Am nächsten Tag lernte ich im Kunstraum einen Jungen kennen, Paul Trout. Er hatte glattes Haar, unreine Haut, und seine Hände schienen sich ohne ihn zu bewegen. Er war wie ich, er konnte nicht still sitzen, ohne irgendetwas zu zeichnen. Als ich auf dem Weg zum Waschbecken an ihm vorbeiging, schaute ich ihm über die Schulter. Seine schwarzen Bleistift- und Filzstiftzeichnungen waren wie die Sachen, die man in Comics sehen konnte: Frauen in schwarzem Leder mit großen Brüsten und hochhackigen Schuhen, die Waffen von der Größe eines Feuerwehrschlauchs schwangen. Männer mit schwellendem Schritt und Messern. Seltsame graffitiähnliche Mandalas mit Yin-Yangs und Drachen und Autos mit Haifischflossen aus den Fünfzigern.
Er starrte mich die ganze Zeit an. Ich spürte seinen Blick, während ich malte. Doch Paul Trouts durchdringendes, blinzelloses Starren störte mich nicht. Es war nicht so wie das der anderen Jungen aus den höheren Klassen, deren Blicke wie ein Überfall waren, feucht, gierig, mehr als nur ein bisschen feindselig. Das hier war der Blick eines Künstlers, der aufs Detail konzentriert war und die Wahrheit vorurteilslos aufnahm. Ein Blick, der sich nicht abwandte, als ich zurückstarrte, sondern erstaunt war, als er sich erwidert fand.
Als er an mir vorbeikam, um etwas in den Papierkorb hinter mir zu werfen, sah er mir beim Malen zu. Ich versuchte nicht, mein Bild zu verstecken. Er konnte es ruhig sehen. Es zeigte Claire auf dem Bett in ihrem malvenfarbenen Pullover, die dunkle Gestalt Rons im Türrahmen. Das Ganze in die roten Lichter des Rettungswagens getaucht. Jede Menge Diagonalen. Es war schwierig, gut zu
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