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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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malen; die Pinsel waren aus Kunststoff, die Plakafarbe trocknete schnell und krümelig. Ich mischte die Farben auf der Rückseite einer Pie-Form.
    »Das ist wirklich gut«, sagte er.
    Er brauchte mir nicht zu sagen, dass es gut war. Ich hatte mein ganzes Leben lang Kunst gemacht, schon ehe ich sprechen konnte und auch danach, als ich es konnte, aber nicht wollte.
    »Niemand hier kann malen«, sagte er. »Ich hasse Dschungel.«
    Er meinte die Flure. Alle Flure bei Mac waren mit Wandgemälden von Dschungeln, Elefanten und Palmen, Massen von Laubwerk und afrikanischen Dörfern mit spitzen, zuckerhutähnlichen Grashütten bemalt. Die Gestaltung war naiv, Rousseau, aber ohne das Bedrohliche, Geheimnisvolle, doch die Bilder waren nicht von den Kindern gemalt worden. Wir durften die Flure nicht bemalen. Stattdessen hatten sie irgendeinen Kinderbuchillustrator oder Tapetendesigner engagiert. Vermutlich dachten sie, dass unsere Kunst zu hässlich, zu verstörend wäre. Was sie nicht wussten, war, dass die meisten Kinder genau das Gleiche gemalt hätten wie der Künstler: friedliche Königreiche, in denen nie etwas Schreckliches passiert. Adler im Gleitflug, verspielte Löwen, afrikanische Wasserträgerinnen und Blumen ohne Geschlechtsmerkmale.
    »Ich bin jetzt zum vierten Mal hier«, sagte Paul Trout.
    Deshalb hatte ich ihn auch noch nie gesehen, außer im Kunstraum. Wenn man absichtlich wiederkam, von seiner Pflegestelle abhaute, verlor man seine Privilegien, durfte nicht mehr an den gemischten Gemeinschaftsabenden teilnehmen. Doch ich konnte verstehen, weshalb sie zurückkamen. So schlecht war es gar nicht bei Mac. Ich konnte nachvollziehen, dass es jemandem beinahe als Paradies erscheinen konnte, wenn man von der Gewalt und den anderen Kindern mal absah. Doch man konnte nicht so viele gestörte Menschen auf engem Raum unterbringen, ohne dass es genauso wurde wie in jeder anderen geschlossenen Anstalt, ob Gefängnisblock oder Psychiatriestation. Da konnten sie die Korridore so bunt anmalen, wie sie wollten, der Albtraum ließ sich nicht verdrängen. Egal, wie fröhlich die Wandgemälde auf den Fluren waren, wie grün die Wiese oder wie gut die Kunst auf der vier Meter hohen Umgrenzungsmauer war, egal, wie nett die Gruppenleiter und Sozialarbeiter waren, wie viele Barbecues es gab oder wie viele Schwimmbäder sie einbauen ließen – es war immer noch der letzte Zufluchtsort für Kinder, die auf so vielfältige Weise verletzt worden waren, dass es ein Wunder war, dass wir überhaupt noch ruhig beim Abendessen sitzen, vor dem Fernseher lachen und nachts einschlafen konnten.
    Paul Trout war nicht der einzige Rückkehrer. Es gab etliche. Hier drinnen war es sicherer; es gab Regeln und feste Essenszeiten, professionelle Betreuung. Mac war ein Boden, von dem man nicht mehr tiefer fallen konnte. Ich vermutete, dass sich die Ex-knackis, die immer wieder ins Gefängnis zurückwanderten, genauso fühlten.
    »Du hast dir das Haar abgeschnitten«, sagte er. »Warum hast du das gemacht? Es hat schön ausgesehen.«
    »Hat zu viel Aufmerksamkeit erregt«, erwiderte ich.
    »Ich dachte, Mädchen mögen das.«
    Ich lächelte und fühlte den bitteren Nachgeschmack im Mund. Dieser Junge wusste vielleicht eine ganze Menge über Grausamkeit und Vernachlässigung, doch über Schönheit wusste er kein bisschen. Wie sollte er auch? Er war an diese Haut gewöhnt, daran, dass die Leute sich wegdrehten und das Feuer in seinen klaren braunen Augen nicht sahen. Wahrscheinlich stellte er sich vor, dass man Schönheit und Aufmerksamkeit genauso empfand wie Liebe.
    »Manchmal schadet es mehr als es nutzt.«
    »Du bist trotzdem schön«, sagte er, während er an seine Zeichnung zurückging. »Daran kannst du gar nichts ändern.«
    Ich malte Claires dunkles Haar, indem ich Blau und dann Braun übereinander auftrug, die hellen Strähnen untermischte, das Rot einfing. »Schönheit bedeutet gar nichts. Nur für andere Leute.«
    »Du sagst das, als ob es gar nichts wäre.«
    »Es ist auch nichts.« Was war Schönheit schon – es sei denn, man hatte vor, sie zu gebrauchen wie einen Hammer oder einen Schlüssel? Sie war nur etwas, das andere Menschen benutzten und bewunderten oder beneideten und verachteten. An das sie ihre Träume nageln konnten wie ein Bild auf eine leere Wand. Und so viele Mädchen, die sagten: benutze mich, träume mich.
    »Du bist ja nie hässlich gewesen.« Der Junge starrte seine Hand an, die die leeren Flächen in seiner

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