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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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der Bettkante und zog ihre Schuhe aus. »Ich habe ihn gefunden. Auf einer Party bei Gracie Kelleher. Am Sprungbrett bin ich ihm wohl in die Quere gekommen.« Sie legte sich neben mich und flüsterte mir ins Ohr: »Er und ein pummeliger Rotschopf mit durchsichtiger Bluse hatten gerade ein kleines Stelldichein. Er ist aufgesprungen und hat mich am Arm gepackt.« Sie schob ihren Ärmel hoch und zeigte mir die roten, wütenden Abdrücke auf ihrem Arm.
    »›Verfolgst du mich etwa?‹, hat er mich angezischt. Ich hätte ihm am liebsten auf der Stelle die Kehle durchgeschnitten. ›Ich brauche dich nicht zu verfolgen‹, habe ich gesagt. ›Ich kann deine Gedanken lesen. Ich kann jeden deiner Schritte vorhersagen. Ich kenne deine Zukunft, Barry Kolker, und die sieht nicht besonders gut aus!‹ ›Ich will, dass du hier verschwindest‹, hat er gesagt. Ich habe ihn nur angelächelt. ›Das kann ich mir vorstellen.‹ Selbst in der Dunkelheit konnte ich sehen, wie er rot anlief. ›So läuft das nicht‹, hat er gesagt. ›Ich warne dich, Ingrid, so läuft das nicht!‹« Meine Mutter lachte und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Er versteht gar nichts. Es läuft schon längst!«
    Ein heißer Samstagnachmittag, Brandgeruch, ein ausgedörrter Himmel. Die Jahreszeit, in der man wegen der giftigen roten Flut noch nicht einmal an den Strand gehen konnte; die Zeit, in der die Stadt wie das alte Sodom in die Knie ging und um Erlösung flehte. Wir saßen im Auto, schräg gegenüber von Barrys Haus unter einem Johannisbrotbaum. Ich fand es furchtbar, wie sie sein Haus beobachtete, mit einer unnatürlichen Ruhe wartete wie ein geduldiger Habicht auf einem Baum, in den der Blitz eingeschlagen hat. Doch es hatte keinen Zweck, wenn ich versuchte, sie zum Weiterfahren zu überreden. Sie sprach nicht mehr dieselbe Sprache wie ich. Ich zerbrach eine Fruchtschote, hielt sie mir unter die Nase, roch den moschusartigen Duft und stellte mir vor, dass ich hier auf meinen Vater wartete, einen Klempner, der gerade ein paar Rohre reparieren musste und dazu in dem kleinen Backsteinhaus mit der Löwenzahnwiese und dem bleiverglasten Panoramafenster, in dem eine Lampe stand, verschwunden war.
    Dann trat Barry aus dem Haus. Er trug Bermudashorts, ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Local Motion«, eine flotte kleine John-Lennon-Sonnenbrille und hatte sein Haar zu dem üblichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er stieg in den alten goldenen Lincoln und fuhr davon. »Komm mit«, sagte meine Mutter. Sie zog sich ein Paar weiße Baumwollhandschuhe über, von der Art, wie sie der Bildredakteur benutzte, wenn er Fotos anfasste, und warf mir ebenfalls ein Paar zu. Ich wollte sie nicht begleiten, wollte aber auch nicht allein im Auto zurückbleiben, also ging ich mit.
    Wir spazierten den Gartenweg zu seinem Haus hoch, als sei es unser Grundstück, und meine Mutter griff in das balinesische Geisterhaus, das er auf der Veranda hängen hatte, und zog einen Schlüssel heraus. Im Haus überkam mich wieder Trauer über das, was passiert war, über seine Endgültigkeit. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich sogar gedacht, dass ich hier eines Tages wohnen würde, zwischen den großen Wayang-Kulit-Puppen, den Batikkissen und den Drachen, die von der Decke hingen. Die Statue von Shiva und Parvati in ewiger Umarmung hatte mich vorher überhaupt nicht gestört, als ich noch dachte, dass er und meine Mutter genauso seien, dass ihre Umarmung ewig dauern und ein neues Universum zeugen würde. Doch nun widerte sie mich an.
    Meine Mutter schaltete den Computer an, der auf dem ausladenden geschnitzten Holztisch stand. Das Gerät summte. Sie drückte ein paar Tasten, und alles, was auf dem Bildschirm gestanden hatte, verschwand. Ich konnte verstehen, warum sie es tat. In diesem Augenblick begriff ich, wieso Leute Graffiti auf die sauberen Wände adretter kleiner Häuser sprühen, mit Schlüsseln den Lack neuer Autos zerkratzen oder wohlerzogene Kinder verprügeln. Es ist nur natürlich, dass man das zerstören will, was man selbst nie haben kann. Sie zog einen Hufeisenmagnet aus ihrer Handtasche und fuhr damit über alle Disketten, auf denen »Backup« stand.
    »Beinahe tut er mir Leid«, sagte sie, während sie den Computer wieder ausschaltete. »Aber nur beinahe.«
    Sie zog ihr Papiermesser hervor und wählte ein Hemd aus seinem Wäscheschrank aus, sein braunes Lieblingshemd. »Wie passend, dass er so gern die Farbe von Exkrementen trägt!« Sie legte es auf das Bett und

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