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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Es war das erste Geld, das ich je verdient hatte.
    »Gut. Gib mir hundert.« Sie streckte die Hand aus.
    »Wofür?«
    Sie schnippte mit den Fingern, streckte die Hand wieder aus.
    »Kommt nicht in Frage.« Ich versteckte das Geld hinter meinem Rücken.
    Ihre schwarzen Augen sprühten vor Zorn. »Was, du denkst, du verkaufst ganz allein an Straßenecke? Du bezahl an mich, ich bezahl an Natalia, Natalia bezahlt an Vermieter, was denkst du? Jeder bezahlt an irgendjemand!«
    »Du hast gesagt, ich könnte es behalten.«
    »Nachdem du an mich bezahlt.«
    »Um Himmels willen«, sagte Niki und sah von der Decke hoch, auf der sie gerade billige Kleider ordnete. »Nun mach schon und bezahl sie. Du musst es.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Rena hievte den Karton auf die andere Hüfte, und als sie sprach, klang ihre Stimme scharf. »Hör mir zu, dewuschka . Ich bezahle, du bezahlen. Ist Geschäft. Wann war letzte Mal, du gehabt dreihundert Dollar in Hand? Also wie ich dir tun weh?«
    Wie konnte ich es ihr erklären? Was ist mit meinen Gefühlen, hätte ich am liebsten gesagt, nur dass es nichts genützt hätte. Für sie drehte sich alles bloß ums Geld und um Sachen, für die man Geld bekommen konnte. Sie hatte mir etwas gestohlen und mich sogar noch dazu gebracht, es für sie zu verkaufen. Unweigerlich fragte ich mich, was du an meiner Stelle getan hättest, Mutter. Doch die Frage passte nicht. Ich konnte mir dich nicht dabei vorstellen, wie du, auf die Gnade von Rena Grushenka angewiesen, deine Kleider auf dem Parkplatz von Natalia’s Nails verkaufst, wie du Tränen über ein Kleid vergießt. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, hielt ich ihr die hundert hin – den Hunderter für das rote Kleid –, und hastig wie ein Hund schnappte sie ihn mir aus der Hand.
    Doch während ich im Bett saß und auf den Lärm, das Gelächter und gelegentliche Poltern aus dem Wohnzimmer lauschte, wusste ich, dass selbst du inzwischen jemanden bezahlen musstet, für dein Pot, deine Schreibtinte und die bessere Sorte Tampons, für Zahnseide und Vitamin C. Doch du hättest einen zwingenden Grund dafür parat, eine Theorie, eine Philosophie. Du würdest es nobel, heroisch erscheinen lassen. Du würdest darüber ein Gedicht schreiben: »Das rote Kleid.« Das könnte ich nie tun.
    Im Wohnzimmer legte jemand ein altes Led-Zeppelin-Album auf. Ich hörte, wie sie mit ihrem schweren Akzent mitsangen; das Wummern von Jimmy Pages Gitarre. Es war vier Uhr früh, und ich konnte schmelzendes Kerzenwachs riechen, das in großen Pfützen auf Tische und Fensterbänke tropfte. Auch ohne Claires Buch über Kerzenmagie sah ich hier klar und deutlich »brennendes Haus« voraus. Deshalb schlief ich auch in meinen Kleidern, ließ die Schuhe neben dem Bett stehen, das Geld in meiner Brieftasche und die wichtigsten Dinge in einer Tasche am Fenster verstaut.
    Man sollte meinen, dass sie versuchen würden, etwas Schlaf zu finden – wir hatten vor, am nächsten Morgen auf den Flohmarkt an der Fairfax High School zu gehen, um unsere selbstgebastelten Kleiner-Mohr-Sambo-Figuren aus Kronkorken zu verkaufen, Tabletts, bemalt mit botanischen Albträumen, nie getragene Babykleidung und all die modrigen Reader’s-Digest-Hefte. Doch ich sah schon voraus, dass sie bis Montag nicht mehr schlafen würden. Ich hoffte bloß, dass ich niemanden traf, den ich kannte.
    Ich blätterte eine Seite meines Zeichenblocks um und begann mit einem neuen Kanu. Silber auf schwarz. Die Tür ging auf, Renas Freund Mischa stolperte herein, posierte in der Tür und begleitete Jimmy Page auf einer imaginären Gitarre; seine dicken roten Lippen waren wie die eines riesigen Kindes. Er sabberte beinahe. »Ich kommen dich besuchen, maja ljubow . Krassiwaja dewuschka .«
    »Verschwinde, Mischa.«
    Er taumelte an mein Bett und setzte sich neben mich. »Don’t be cruel«, sang er, Elvis imitierend, und beugte sich herunter, um auf meinen Hals zu sabbern.
    »Lass mich in Ruhe!« Ich versuchte, ihn wegzuschubsen, doch er war zu groß und wabbelig; er fiel halb in sich zusammen, und ich fand nichts Stabiles, das ich wegstoßen konnte.
    »Mach keine Sorgen«, sagte er. »Ich machen nix.« Er legte sich neben mich auf das Bett, machte sich breit wie ein Fettfleck. Seine Alkoholausdünstungen waren betäubend; ich musste daran denken, dass es Schlangen gibt, die ihre Beute mit ihrem Atem lähmen. »Ich nur bin so einsam.«
    Ich rief um Hilfe, doch über die laute Musik hinweg konnte mich niemand hören.

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