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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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anflehte, den Fisch wieder schwimmen zu lassen. Es war das Mindeste, was ich tun konnte. Ich musste ohnehin selbst für mein Glück sorgen. Ich lehnte mich hinter Niki zum Fenster hinaus und öffnete die Plastikkugel in den Wind.
    Es war Viertel vor acht, als wir an der Marshall High School vorfuhren, meiner achten Schule in fünf Jahren. Das Hauptgebäude war kunstgerecht mit roten Ziegelklinkern verkleidet, doch rechts und links davon standen provisorische Baracken. Yvonne verbarg sich hinter ihrer Zeitschrift; es war ihr peinlich, gesehen zu werden. Sie war in diesem Winter von der Schule abgegangen.
    »Hey«, rief Rena mir zu, während ich aus dem Van stieg. Sie beugte sich über Niki und hielt mir ein Bündel zusammengefaltete Geldscheine hin: »Geld regiert Welt!«
    Ich nahm das Geld und musste an Amelia denken, während ich es in die Tasche steckte. »Danke.«
    Niki schnaubte verächtlich zu den Jugendlichen hinüber, die auf der Mauer saßen und ihre Zigaretten aufrauchten, ehe der Unterricht begann. »Die Scheißschule nervt doch total. Wieso hörst du nicht auf? Rena ist das doch egal!«
    Ich zog die Schultern hoch. »Ich hab nur noch ein halbes Jahr«, sagte ich. Doch in Wahrheit hatte ich nur Angst, wieder eine Sache weniger im Leben zu haben.

24

    Um ein Uhr morgens saß ich senkrecht im Bett, Watte in die Ohren gestopft, während Rena und die Genossen im Wohnzimmer abfeierten. Jetzt jaulten sie gerade zu einer alten Platte von The Who, die sie so laut aufgedreht hatten, dass ich das Dröhnen auf dem Boden spüren konnte. Deshalb gefiel es Rena so gut zwischen den Handwerksbetrieben, Bäckereien und Metallwerkstätten. Man konnte so viel Krach machen, wie man wollte. Ich hatte inzwischen gelernt, dass das Leben in der Ripple Street aus Rock ’n Roll bestand. Niki sang in drei verschiedenen Bands, und Renas Lieblingsmusik waren die alten Rockhits aus den Siebzigern, die sie zum ersten Mal auf Schwarzmarktkassetten in Magnitogorsk gehört hatte. Ich versuchte mich an die Melodien von Debussy zu erinnern, an den Klang des Gamelan, an Miles Davis, doch die dröhnenden Bässe von The Who hämmerten es mir gleich wieder aus dem Kopf.
    Für mich war Rock nur eine andere Form von gesichtslosem Sex in einer Männerwelt, an eine Betonwand hinter den Toiletten gelehnt. Gebt mir ein Klanggedicht von Satie, wie das Licht auf Monets Heuhaufen, oder die Brasilianische Astrud, wie eine Linie von Matisse. Lasst mich mit Matisse bei halb geschlossenen Fensterläden in einem Zimmer in Südfrankreich liegen und dem weichen Flattern der weißen Tauben lauschen, ihrem leisen Gurren. Es dauert nicht mehr lang, Henri, dann kommt Picasso mit seinen großen Stiefeln. Wir sollten den Nachmittag genießen.
    Ich vermisste die Schönheit. Die Sternennächte in Tujunga; Claires Nacken, wenn sie sich über mich beugte, um meine Hausaufgaben zu kontrollieren. Meine Mutter, die durch den Swimmingpool in Hollywood tauchte; die Melodie ihrer Worte. Alles weg. Mein Leben war jetzt eben so, wie es war. Einsamkeit ist das Los der Menschheit. Gewöhne dich daran.
    Yvonnes Bett auf der anderen Seite des Zimmers war leer; sie war gegen elf mit jemandem zu einer Party auf der anderen Seite des Flusses gefahren. Ich setzte mich im Bett auf und zeichnete im Licht der Lampe, verfolgte eine indigofarbene Linie aus Ölkreide auf violettem Papier mit einem flüsternden Silberstrich. Es wurde ein Boot, ein dunkles Kanu am Ufer einer mondlosen See. Niemand war an Bord, keine Ruder, keine Segel. Es ließ mich an die sonnenlose See Kubla-Khans denken und auch an die Wikinger meiner Mutter, die ihre Toten in Schiffen auf das Meer hinausschickten.
    Ich blies mir in die Hände und rieb sie aneinander. Die Heizung funktionierte nicht, Rena hatte sie noch nicht reparieren lassen. Stattdessen trugen wir die ganze Zeit Pullover. »Kalt?«, sagte sie. »In Kalifornien? Ihr macht Witz!« Sie spürten die Kälte nicht, wenn sie zu ihren Platten grölten und Hunter’s Brandy tranken, eine hochprozentige russische Spezialität, die schmeckte wie mit Nägeln gewürzter Wodka.
    Ich blickte mich in dem engen, vollgepackten Zimmer um – wie das Lager eines Wohltätigkeitsladens. Ich stellte mir vor, was meine Mutter wohl sagen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte, ihre verbrennende kleine Künstlerin. Bloß ein weiterer abgenutzter Gegenstand in Renas Trödelladen. Gefällt Ihnen Lampe mit grüne Fuß? Sagen Sie Preis. Sie wollen das Ölgemälde mit der

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