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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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hasste meine Mutter, doch ich sehnte mich auch nach ihr. Ich wollte verstehen, wie sie meine Welt mit so viel Schönheit füllen und gleichzeitig sagen konnte: Diese Frau war zur Überdosis geboren.
    Der räudige Kater pirschte sich über die Rückenlehne der Couch heran und kletterte vorsichtig auf meinen Schoß. Ich ließ zu, dass er sich unter meinem Herzen zusammenrollte, schwer, warm und schnurrend wie ein LKW in einem niedrigen Gang.
    Liebe Astrid,
    es ist drei Uhr nachts; wir haben gerade die vierte Kontrolle hinter uns. Im Bunker brennt das Licht die ganze Nacht, kalte Leuchtstoffröhren scheinen auf die grauen Zellenwände, die gerade genug Platz für das Bett und die Toilette lassen. Immer noch kein Brief von dir. Nur Schwester Lunarias sexuelle Litanei. Sie erklingt Tag und Nacht aus dem unteren Bett, wie Gebete von tibetischen Mönchen, die die Welt zum Leben erwecken wollen. An diesem Abend ist die Exegese dem Buch Raoul gewidmet, ihrem letzten Freund. Wie andächtig sie Größe und Gestalt seines Organs beschreibt, den prismatischen Katalog seiner erotischen Reaktionen.
    Sex ist das Allerletzte, woran ich hier denke. Mein einziges Anliegen ist die Freiheit. Ich grüble über die Anordnung der Moleküle in den Mauern nach. Ich meditiere über die Natur der Materie, das Vorherrschen des leeren Raumes im wirbelnden Rodeo der Elektronen. Ich versuche, zwischen den Quantenpaketen zu oszillieren, völlig außer Phase schwingend, um schließlich, im Wellental der Pulse, die Materie zu durchdringen. Eines Tages werde ich geradewegs durch diese Mauern gehen. »Gonzales besorgt’s Vicki Manolo drüben auf Simmons A«, sprach Lunaria. »Er hat einen Schwanz wie ein Hengst. Wenn er sich hinsetzt, sieht’s so aus, als ob er einen Baseballschläger vorne drin hat.«
    Die Häftlinge mögen Gonzales. Er macht sich die Mühe zu flirten, benutzt Rasierwasser, seine Hände sind so sauber wie weiße Callablüten. Lunaria liegt masturbierend in ihrem Bett und stellt sich riesenhafte Penisse vor; sie paart sich mit Pferden, mit Bullen; sie ist regelrecht jovianisch in ihren Fantasien, während ich auf die Lochmuster in den Dämmplatten an der Decke starre und dem nächtlichen Atem des Gefängnisses lausche. Neuerdings höre ich alles. Ich höre das Klicken der Karten aus dem Wachturm 1 – kein Poker, es klingt eher wie Rommé – und lausche den traurigen Berichten über Hämorrhoiden und häuslichen Argwohn. Auf Miller, der Gnadenstation, schnarchen die alten Damen, das Gebiss in einem Glas neben sich. Ich höre die Ratten in der Küche. Eine Frau schreit auf der Sicherheitsstation; auch sie hört die Ratten, aber versteht nicht, dass sie nicht in ihrem Bett sind. Man fixiert sie eilig.
    Aus den Zellen der Zugangsabteilung höre ich gemurmelte Drohungen, während sie ein neues Mädchen fertig machen. Sie ist weich, eine Scheckbetrügerin, für einen Aufenthalt hier nicht gerüstet. Sie nehmen ihr alles ab, was sie ihr noch nehmen können. Fotze, sagen sie zu ihr, nachdem sie mit ihr durch sind. Der Rest des Gefängnisses schläft unruhig; die Gefangenschaft lässt lebhafte Träume entstehen. Ich weiß, was sie träumen. Ich kann in ihnen lesen wie in einem Roman; es ist besser als Joyce. Sie träumen von Männern, die sie schlagen, ein Rückhandschlag, ein unsanfter Tritt in den Unterleib. Männern, die die Zähne zusammenpressen, bevor sie zuschlagen, und dann zischen: »Du hast es ja nicht anders gewollt, du zwingst mich dazu!« Noch im Schlaf ducken sich die Frauen unter ihrem Blick; männliche Augäpfel, die vor Zorn aus ihren Höhlen quellen, von Adern durchzogen wie eine topographische Karte, das Weiße hat die Farbe schlecht gewordener Mayonnaise. Man fragt sich, wie sie überhaupt genug sehen konnten, um ihre Schläge zu platzieren. Doch die Angst der Frauen ist ein Magnet. Ich hoffe, du weißt das noch nicht. Sie zieht Fäuste an, Männerhände, so hart wie die Gottes.
    Andere haben mehr Glück. Sie träumen von Männern mit sanften Händen, beredt in ihrer Zärtlichkeit, von Fingern, die über Wangen streichelten und die Konturen geöffneter Lippen in der Brailleschrift der Liebenden beschrieben. Von Händen, die Süße aus widerspenstigem Fleisch formten, die öffnend und knetend Brüste erforschten und Hüften entflammten. Unter der Hitze dieser Hände wird Fleisch zu Brot, zu einem aufgehenden Hefezopf.
    Manche träumen auch von Verbrechen, Waffen und Geld. Phiolen voller Träume, die dahinschwanden wie

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