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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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das Leben ihres Babys zurückkehren würde – schlank, selbstbewusst, im blauen Kostüm und in hochhackigen Schuhen, mit perfektem Haarschnitt – und ihr erwachsenes Kind sie umarmen und ihr alles vergeben würde. Wie wahrscheinlich war das schon!
    Ich setzte mich neben Yvonne und sah die Briefe meiner Mutter durch, öffnete einen.
    Liebe Astrid,
warum schreibst du nicht? Du kannst mich doch nicht im Ernst für Claire Richards’ Selbstmord verantwortlich machen! Diese Frau war zur Überdosis geboren. Ich habe es dir schon gesagt, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Glaub mir, sie ist jetzt besser dran.
    Andererseits schreibe ich dir aus der Isolationshaft, einem Gefängnis im Gefängnis. Das ist alles, was von meiner Welt übrig geblieben ist: eine Zelle von fünf mal fünf, die ich mir mit Lunaria Irolo teile, einer Frau, die so verrückt ist, wie ihr Name klingt.
    Tagsüber krächzen die Krähen, misstönend und verdrossen, eine perfekte Nachahmung der Verdammten. Natürlich würde sich kein Singvogel in der Nähe dieses Ortes niederlassen. Nein, wir sind ziemlich allein mit unseren unheiligen Krähen und den weit entfernten Schreien der Möwen.
    Das Summen und Zuschlagen der Tore hallt in diesem großen hohlen Verlies wider, rollt über die Zementböden dorthin, wo wir hinter einem Gitterzaun sitzen, hinter Türen mit Sichtluken, und Mord- und Rachepläne schmieden. Ich bin im Bunker, sagen sie hier. Sie führen uns sogar in Handschellen zur Dusche. Das sollten sie auch besser.
    Mir gefiel diese Vorstellung: meine Mutter im Bunker, in Handschellen. Von dort aus konnte sie mir nicht schaden.
    Durch die Luke in der Tür kann ich die Wärter an ihren Tischen in der Mitte der Einheit sehen. Unsere Pförtner der Buße beim Doughnut-Essen, an ihren Hüften glitzern wichtigtuerisch die Schlüsselbunde. Es sind die Schlüssel, die ich im Auge behalte. Ich bin hypnotisiert von Schlüsseln, dicke Fäuste voller Schlüssel, ich kann ihre saure Legierung schmecken, kostbarer als Weisheit.
    Gestern hat Sergeant Brown verfügt, dass meine halbe Stunde unter der Dusche bereits zu der einen Stunde zählt, die ich täglich außerhalb meiner Zelle verbringen darf. Ich kann mich noch erinnern, dass ich gehofft hatte, er wäre ein vernünftiger Mann, schwarz, schlank, redegewandt. Doch ich hätte es wissen müssen. Seine tiefe Stimme scheint nicht aus seiner mageren Gestalt zu kommen, sie ist so künstlich wie die eines Predigers, durchdrungen von einem übertriebenen Wichtigkeitsgefühl, der Zerberus unseres greifbaren Infernos.
    In meiner ausgedehnten Freizeit übe ich mich in Astralwanderungen. Während Lunarias Stimme daherleiert, erhebe ich mich von meiner Pritsche und fliege nach draußen, über die Felder, folge der Autobahn Richtung Westen, bis ich die Wolkenkratzer der Stadt sehe. Ich habe die Mosaike der glänzenden Pyramide der Central Library berührt. Ich konnte die uralten Karpfen in den Koi-Teichen des New Otani Hotel glitzern sehen, orangerot, pfefferfarben, silbergetüpfelt und schwarz. Ich kreise im Aufwind um die eleganten Zylinder des Bonaventure Hotel, während seine gläsernen Außenfahrstühle von Stockwerk zu Stockwerk steigen. Erinnerst du dich noch daran, als wir einmal ganz oben im Drehrestaurant gewesen sind? Du wolltest nicht in die Nähe der Fenster gehen, du hast geschrien, der Raum würde dich hinausziehen. Wir mussten uns an einen Tisch in der Mitte setzen, weißt du noch? Du weißt ja, dass Höhenangst bloß Misstrauen gegenüber dem eigenen Selbst ist, Misstrauen, ob man womöglich springen wird.
    Und ich sehe Dich durch Gassen gehen, auf verlassenen, unkrautüberwucherten Grundstücken sitzen, zartes Wildkraut im Regen. Du meinst, du könntest es nicht ertragen, diesen Schwächling Claire zu verlieren. Erinnere dich, es gibt nur eine Tugend, Astrid. Die Römer hatten Recht. Man kann alles ertragen. Der Schmerz, den wir nicht ertragen können, tötet uns sofort.
    Mutter.
    Doch ich glaubte ihr nicht eine Sekunde lang. Vor langer Zeit hatte sie mir mal erzählt, sich jeden Tag im Kampf zu zerfetzen und am Abend die Fetzen wieder zusammenzuflicken sei die Vorstellung der Wikinger vom Himmel. Ewiges Schlachten, darum ging es. Man wird nie sofort getötet. Es ist wie mit dem Adler, der tagsüber von deiner Leber frisst und sie dann wieder wachsen lässt, nur noch mehr Spaß.

26

    Die Züge auf der anderen Seite des Flusses rollten auf ihren Eisenrädern dahin und gaben ihr nächtliches

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