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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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später Schnee. Auch ich bin dabei. Ich sehe das Gesicht eines überraschten ARCO-Tankwarts genau in dem Moment, in dem es zu einer Collage aus hellem Blut und Knochen wird.
    Ich lege mich in dem langersehnten Apartment hin, weißer Teppich, Müllentsorgungsanlage, Geschirrspülmaschine, bewachtes Parkhaus. Auch ich betrüge das alte Ehepaar um seine Ersparnisse und feiere dann bei einer Flasche Mumm und Sevruga auf Toast. Behutsam hebe ich die Glasschiebetür eines zweistöckigen Hauses in Mar Vista aus ihrer Schiene. Ich kaufe mit einer gestohlenen American-Express-Karte einen Pelzmantel bei Saks. Den besten russischen Zobel, so golden wie Weinbrand. Am besten sind die Freiheitsträume. Lenkräder, die einem so wirklich in der Hand liegen, der Schwung beim Gasgeben, die Tankanzeige steht auf VOLL. Wind weht durch die offenen Fenster; wir benutzen die Klimaanlage nicht, wir saugen lieber die vorbeiströmende, lebendige Luft ein. Wir nehmen die Autobahnen, fahren auf der Überholspur, halten nach Schildern Ausschau, auf denen San Francisco oder New Orleans steht. Wir überholen Trucks auf den Interstates, und ihre Fahrer hupen uns zu. Wir trinken an Tankstellen Soda und essen Burger in Raststätten gleich neben der Straße, bestellen uns alle Extras. Wir hören uns die Countrymusic-Sender an, wir schalten Tijuana, Chicago oder Atlanta, Georgia, ein und schlafen in Motels, in denen der Mann an der Rezeption noch nicht mal aufblickt, sondern nur das Geld kassiert.
    Auf Barneburg B träumt meine Zellengenossin Lydia Guzman davon, wie sie im Sommer über den Whittier Boulevard geht. Ein Schuss verschnittener Drogen pumpt Salsa-Rhythmen durch ihre Oberschenkel, die in Zehn-Dollar-Strumpfhosen glänzen. Mit ihrem langsamen, hüftschwingenden Gang und ihrem unglaublich engen Rock macht sie die jungen mexikanischen Vatos ganz wild. Ihr Lachen schmeckt nach verbranntem Sonnenschein, Kaktus und dem Wurm.
    Vor allem aber träumen wir von Kindern. Von der Berührung kleiner Hände, den schimmernden Reihen winziger Perlenzähne. Immer verlieren wir unsere Kinder. Auf Parkplätzen, im Supermarkt, im Bus. Wir drehen uns um und rufen nach ihnen. Shawanda, rufen wir, Luz, Astrid. Wie konnten wir euch nur verlieren, wir haben doch so gut aufgepasst? Nur einen Augenblick lang haben wir weggeschaut. Und nun stehen wir allein am Straßenrand, die Arme voller Päckchen, und jemand hat uns unsere Kinder weggenommen.
    Mutter.
    Sie konnten sie zwar einsperren, aber die Umwandlung der Welt durch ihren Geist konnten sie nicht verhindern. Das hatte Claire nie verstanden. Dass meine Mutter etwas tat, indem sie der Welt ihr Gesicht aufdrückte. Es gab Verbrechen, die viel zu subtil waren, als dass man sie wirksam verfolgen konnte.
    Ich richtete mich auf, und die weiße Katze floss von meinem Schoß herunter wie Milch. Ich faltete den Brief zusammen, steckte ihn in seinen Umschlag zurück und warf ihn auf den Couchtisch. Mich konnte sie nicht zum Narren halten. Ich war das weiche Mädchen aus der Zugangsabteilung. Sie würde mir alles stehlen, was man mir noch nehmen konnte. Ich würde mich aber nicht vom schönen Klang ihrer Worte einlullen lassen. Ich konnte sehr gut die lumpige Wahrheit von einer geschickten Lüge unterscheiden.
    Niemand hatte mich dir weggenommen, Mutter. Meine Hand ist deinem Griff nie entglitten. So ist es ganz und gar nicht gewesen. Ich war eher wie ein Auto, das du irgendwo geparkt hattest, als du betrunken warst und dich dann nicht mehr erinnern konntest, wo du es abgestellt hattest. Du hast siebzehn Jahre lang weggeschaut, und als du dich wieder umdrehtest, war ich eine Frau geworden, die du nicht wiedererkanntest. Soll ich jetzt etwa Mitleid empfinden mit dir und all diesen anderen Frauen, die ihre Kinder während eines Raubüberfalles, eines Mordes, einer Fiesta der Gier verloren haben? Heb dir deine dichterische Anteilnahme für jemanden auf, der leichtgläubiger ist. Wenn eine Dichterin etwas sagt, heißt das noch lange nicht, dass es auch stimmt, sondern nur, dass es gut klingt. Eines Tages würde ich wahrscheinlich alles in einem Gedicht für den New Yorker lesen.
    Ja, ich war tätowiert, genau wie sie es gesagt hatte. Jeder Zentimeter meiner Haut war durchbohrt und besudelt; ich war das Urbild der gezeichneten Frau, ein japanischer Gangster, eine wandernde Bildergalerie. Halte mich ins Licht, lese meine hellen Wunden. Wenn ich Barry gewarnt hätte, hätte ich sie vielleicht aufhalten können. Doch sie hatte

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