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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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bereits von mir Besitz ergriffen. Ich wischte mir die Tränen ab, trocknete meine Hände an der weißen Katze und griff nach einer weiteren Hand voll Glassplitter, um sie über meine Haut zu reiben. Ein weiterer Brief voller aufwühlender Vorgänge, Dramen und Fantasien. Ich überflog die Seite.
    Irgendwo im Bunker weint eine Frau. Sie hat die ganze Nacht über geweint. Ich habe versucht, sie zu finden, doch schließlich wurde mir klar, dass sie gar nicht hier ist. Du bist es. Hör auf zu weinen, Astrid, ich verbiete es dir. Du musst stark sein. Ich bin in deinem Zimmer, Astrid, fühlst du mich? Du teilst dir das Zimmer mit einem Mädchen; sie kann ich auch sehen, ihr glattes Haar, ihre schmalen, gebogenen Augenbrauen. Sie schläft fest, aber du nicht. Du sitzt aufrecht im Bett unter einer gelben Chenilledecke – meine Güte, wo hat sie das Teil bloß aufgetrieben, deine neue Pflegemutter? Meine Mutter hatte genau so eine. Ich sehe, wie du deine nackten Knie umschlingst, die Stirn dagegen presst. Grillen reiben ihre Beine aneinander wie Billardspieler beim Maßnehmen für den entscheidenden Stoß. Hör auf zu weinen, hörst du mich? Was glaubst du denn, wer du bist? Was mache ich eigentlich hier drinnen, außer dir zu zeigen, dass eine Frau stärker ist als das?
    Einen anderen Menschen zu lieben ist eine so große Verantwortung, doch hier drinnen kommt es einem vor, als ob man Zuwerfen mit Granaten spielt. Die Lebenslänglichen raten mir, dich zu vergessen, mir das Leben leicht zu machen. »Du kannst dir hier ein neues Leben aufbauen«, sagen sie. »Such dir eine Partnerin, finde neue Kinder.« Manchmal ist es so schrecklich, dass ich glaube, sie haben Recht. Ich sollte dich vergessen. Manchmal wünschte ich, Du wärst tot, dann wüsste ich wenigstens, dass du in Sicherheit bist.
    Eine Frau auf meiner Station hat ihren Kindern Heroin gegeben, seit sie klein waren, um immer zu wissen, wo sie gerade waren. Sie sind jetzt alle im Gefängnis, alle am Leben. Es gefällt ihr so. Wenn ich glaubte, dass ich hier mein Leben lang bleiben müsste, dann würde ich dich vergessen. Ich müsste es. Es macht mich ganz krank, an dich zu denken, wie du dir irgendwo da draußen Wunden zuziehst, während ich in dieser Zelle kreise, machtlos wie ein Geist in der Flasche. Astrid, hör auf zu weinen, verdammt!
    Ich werde herauskommen, Astrid, das verspreche ich dir. Ich werde die Wiederaufnahme meines Verfahrens beantragen, ich werde durch die Wände gehen, ich werde davonfliegen wie eine weiße Krähe.
    Mutter.
    Ja, ich weinte. Ihre Worte waren wie Briefbomben, die sie in Umschlägen versiegelt hatte und die mich Wochen später zerfetzt und blutig zurückließen. Du meinst, du kannst mich sehen, Mutter? Alles, was du je sehen konntest, war dein eigenes Gesicht im Spiegel.
    Du hast immer gesagt, ich wüsste nichts, doch genau da musste man anfangen – im Nichtwissen. Ich würde niemals den Anspruch erheben zu wissen, wovon Frauen im Gefängnis träumen, welches Recht die Schönheit hat oder was die Magie der Nacht in sich birgt. Wenn ich das auch nur einen Moment lang glaubte, hätte ich nie die Möglichkeit, es herauszufinden, es im Ganzen zu sehen, es entstehen und sich entwickeln zu sehen. Ich muss nicht mein Gesicht in jeder Wolke sehen, die Hauptdarstellerin jedes noch so zufälligen Ereignisses sein.
    Wer bin ich, Mutter? Ich bin nicht du. Deshalb wünschst du dir auch, ich wäre tot. Du kannst mich nicht mehr formen. Ich bin das unkontrollierbare Element, die Willkür, ich bin Vorwärtsbewegung in der Zeit. Du meinst, du könntest mich sehen? Dann sag mir, wer ich bin. Du weißt es nicht. Ich bin überhaupt nicht wie du. Meine Nase ist anders, flach am Nasenrücken, nicht scharf geknickt wie eine Falte im Reispapier. Meine Augen sind nicht eisblau, gefärbt in deiner merkwürdigen Mischung aus Schönheit und Grausamkeit. Sie sind so dunkel wie die Prellungen auf der Innenseite eines Armes, sie lächeln nie. Du verbietest mir zu weinen? Ich bin kein Teil von dir, ich unterstehe deinen Befehlen nicht mehr. Du hast immer gesagt, ich hätte keine Fantasie. Falls du damit meintest, dass ich Scham und Reue empfinden konnte, hast du Recht gehabt. Ich kann die Welt nicht durch bloße Willenskraft neu erschaffen. Ich weiß nicht, wie ich meinen eigenen Lügen glauben soll. Dazu bedarf es einer ganz bestimmten Begabung.
    Ich trat auf die vordere Veranda hinaus, stand barfuß auf den gesplitterten Holzbalken. Der Wind trug das gleichmäßige

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