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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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gleichmäßiges Percussionkonzert. Auf unserer Seite, hinten bei der Bäckerei, spielte ein Junge E-Gitarre. Er konnte auch nicht schlafen, das Geräusch der Züge hielt ihn wach. Die Gitarre trug seine Sehnsucht in die Nacht hinaus wie Lichtfunken, eine Musik, unergründlich in ihrem gegenstandslosen Verlangen, schön, jenseits von Trost oder Auflösung.
    Im anderen Bett wälzte sich Yvonne unruhig hin und her. Der Ahornrahmen des Bettes ächzte unter ihrem Gewicht, wenn sie sich umdrehte. Sie hatte noch acht Wochen bis zur Geburt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie noch dicker werden könnte. Die Schwellung ihres Bauches erhob sich aus der Ebene der Bettdecke wie ein weicher Vulkankegel, ein Mount Saint Helens, ein Popocatepetl kurz vor dem Ausbruch. Die Zeit bewegte sich im Zimmer fort, in der Musik der Züge, Rad für Rad, ein Zug, so gewaltig, dass er drei Lokomotiven brauchte, um seine Last durch die Nacht zu bewegen. Wo fahren die Züge hin, Mutter? Sind wir schon angekommen?
    Manchmal stellte ich mir vor, ich hätte einen Vater, der in Nachtschicht für die Eisenbahn arbeitete. Ein Stellwärter für Southern Pacific, der schwere feuerfeste Handschuhe trug, groß wie Ruder, und sich mit mächtigen Unterarmen den Schweiß von der Stirn wischte. Wenn ich einen Vater hätte, der nachts für die Eisenbahn arbeitete, dann hätte ich vielleicht auch eine Mutter, die auf das Klicken der Tür lauschte, wenn er nach Hause kam, und ich würde durch die dünnen Wände unseres Hauses ihre leise Stimme hören, ihr gedämpftes Gelächter. Wie weich ihre Stimmen klingen würden und süß, wie Tauben, die unter einer Brücke brüten.
    Wenn ich Dichterin wäre, würde ich darüber schreiben. Über Leute, die mitten in der Nacht arbeiten. Über Männer, die Züge beladen, über Nachtschwestern in der Notaufnahme und ihre sanften Hände. Nachtportiers in Hotels, Taxifahrer auf Nachtschicht, Kellnerinnen in Nachtcafés. Sie kennen die Welt, wissen, wie kostbar es ist, wenn sich jemand an ihren Namen erinnert, und kennen die Tröstlichkeit einer rhetorischen Frage: »Wie geht’s, was machen die Kinder?« Sie wissen, wie lang die Nacht ist. Sie kennen das Geräusch, das das Leben macht, wenn es fortgeht. Es klappert wie eine lose zuschlagende Fliegengittertür im Wind. Nachtarbeiter leben ohne Illusionen, sie wischen Träume von Theken ab, sie laden Fracht ein. Sie fahren zurück zum Flughafen, um einen letzten Fahrgast abzuholen.
    Unter dem Bett wand sich ein dunklerer Strom in die Nacht. Die ungelesenen Briefe meiner Mutter, flüssig vor Lügen, hoben und senkten sich wie Überreste eines gewaltigen Schiffswracks, die noch Jahre, nachdem der Dampfer untergegangen ist, an den Strand gespült werden. Ich würde keine weiteren Worte zulassen. Von jetzt an wollte ich nur noch Dinge, die man fühlen und schmecken konnte: den Geruch neuer Häuser, das Summen der Hochspannungsleitungen vor dem Regen. Einen Fluss im Mondlicht, Bäume, die aus dem Beton wachsen, Brokatfetzen in einer Fünfzig-Cent-Mülltonne, rote Geranien auf der Fensterbank einer Näherei. Zeigt mir, wie die Hausdächer in der Nachmittagssonne Formen auftürmen wie Brandungswellen, etwas ganz ohne Verdrehungen, kein Selbstporträt in Wasser und Wind. Gebt mir den Jungen mit der E-Gitarre, mein Bett in meinem Pflegeheim am Ende der Ripple Street und die Umrisse von Yvonne und ihrem zukünftigen Baby. Sie war die Hügel Kaliforniens, senfbedeckt und grün, lohfarben wie Löwen zur Sommerzeit.
    Auf der anderen Seite des Zimmers schrie Yvonne auf. Ihr Kopfkissen fiel auf den Boden. Ich hob es für sie auf. Es hatte sich voll Schweiß gesogen wie ein Schwamm. Sie schwitzte nachts so stark, dass ich ihr manchmal helfen musste, das Bett frisch zu beziehen. Ich schob das Kissen unter ihr dunkles Haar, strich ihr die schweißnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie war so heiß wie eine dampfende Ladung nasser Wäsche. Die Gitarre entwirrte ein Stück, das ich nur ab und zu als »So you want to be a Rock ’n’ Roll Star« erkennen konnte.
    »Astrid«, flüsterte Yvonne.
    »Hör mal«, sagte ich. »Jemand spielt Gitarre.«
    »Ich hatte einen schrecklichen Traum«, murmelte sie. »Dauernd haben mir Leute meine Sachen gestohlen. Sie haben mir mein Pferd weggenommen.«
    Ihr filzbesetztes Papp-Pferd, weiß, mit Zaumzeug aus Goldpapier und einer Mähne aus roten Seidenfransen, stand auf der Kommode, eine Vorderhand angehoben, den Hals zu einem Bogen gekrümmt, der die

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