Weisser Oleander
Verantwortung gegenüber der himmlischen Macht annehmen und uns unserer eigenen Fehlbarkeit bewusst werden.«
Plötzlich kehrte eine Szene, die ich die ganzen Monate über verdrängt hatte, in mein Bewusstsein zurück. Der Tag, an dem ich Barry angerufen hatte, um ihn zu warnen, und dann wieder aufgelegt hatte. Ich spürte das Gewicht des Hörers, als ich ihn auf die Gabel hängte. Meine Verantwortung. Meine Infektion.
»Wir brauchen Jesu Christi Antikörper, um diese Vergiftung unserer Seelen zu überwinden. Und jene, die lieber sich selbst dienen als dem Vater im Himmel, werden die tödlichen Konsequenzen erfahren.«
Es hatte plötzlich nichts Surreales mehr. Was Reverend Thomas sagte, war die Wahrheit. Ich hatte mich mit dem Virus angesteckt. Ich war schon die ganze Zeit über infiziert gewesen. An meinen Händen klebte Blut. Ich musste an meine schöne Mutter denken, die in ihrer kleinen Zelle saß. Ihr Leben war an einen toten Punkt gekommen. Sie war genau wie der Manson-Junge. Sie glaubte nur an sich selbst, ließ kein höheres Gesetz, keine Moral gelten. Sie meinte, alles allein dadurch rechtfertigen zu können, dass sie es wollte, selbst Mord. Sie versuchte noch nicht einmal, ihr Tun damit zu entschuldigen, wem sie warum wehgetan hatte. Sie hatte kein Gewissen. Ich will nicht dienen . Genau das hatte Stephen Dedalus im »Porträt des Künstlers« gesagt, doch er hatte damit einen Ausspruch Satans wiederholt. Das war der Sündenfall gewesen: Satan wollte nicht dienen.
Eine alte Dame trat aus dem Chor nach vorn und begann zu singen: »Wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du für uns gestorben bist, und hast uns durch dein teures Blut gemacht vor Gott gerecht und gut …« Sie konnte wirklich gut singen. Und ich weinte; mir liefen die Tränen nur so über das Gesicht. Wir starben innerlich, meine Mutter und ich. Wenn wir nur Gott hätten, Jesus, irgendetwas, größer als wir selbst, an das wir glauben konnten, dann könnten wir geheilt werden. Wir könnten trotz allem ein neues Leben beginnen.
Im Juli wurde ich getauft und in die »Wahre Gemeinschaft Christi« aufgenommen. Es störte mich noch nicht einmal, dass der scheinheilige Reverend Thomas die Taufe vollzog, der Starr in den Ausschnitt starrte und sie mit den Augen verschlang, wenn sie vor ihm die Treppe hochging. Ich schloss die Augen, als er mich in das quadratische Becken hinter dem Gemeindehaus tauchte, und meine Nase füllte sich mit Chlor. Ich wollte, dass der Geist über mich kam und mich reinwusch. Ich wollte dem Plan folgen, den Gott für mich entworfen hatte. Ich wusste genau, wohin es mich führen würde, wenn ich meinem eigenen Plan folgte.
Anschließend gingen wir zu Church’s Fried Chicken, um die Taufe zu feiern. Noch nie zuvor hatte jemand eine Party für mich ausgerichtet. Starr schenkte mir eine weiße, in Kunstleder gebundene Bibel, in der einzelne Passagen rot hervorgehoben waren. Von Carolee und den Jungen bekam ich eine Schachtel Briefpapier. Die rechte obere Ecke war mit einer Taube bedruckt, die ein Banner mit der Aufschrift »Lobet den Herrn« im Schnabel trug. Starr musste es wohl ausgesucht haben. Onkel Ray schenkte mir ein winziges Goldkreuz an einem Kettchen. Und das, obwohl er mich für verrückt erklärte, weil ich mich taufen ließ.
»Du kannst doch nicht wirklich an diesen ganzen Scheiß glauben«, flüsterte er mir ins Ohr, während er mir das Kettchen umlegte.
Ich hielt mein Haar hoch, sodass er das Kettchen schließen konnte. »An irgendetwas muss ich doch glauben«, sagte ich leise.
Seine Hand ruhte auf meinem Nacken, warm und schwer. Sein gutmütiges, einfaches Gesicht, die traurigen haselnussbraunen Augen. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass er mich küssen wollte. Ich fühlte es. Als er sah, dass ich es gemerkt hatte, wurde er rot und schaute weg.
Liebe Astrid,
HAST DU DEN VERSTAND VERLOREN?? Du wirst dich 1.) nicht taufen lassen, 2.) dich keinesfalls eine Christin nennen und 3.) mir nicht auf diesem albernen Briefpapier schreiben. Du wirst deine Briefe nicht mit »wieder geboren in Christus« unterschreiben! Gott ist tot, hast du das noch nicht gehört? Er ist schon vor hundert Jahren gestorben, hat seinen Job aus reinem Desinteresse aufgegeben und sich entschlossen, lieber Golf zu spielen. Ich habe dich zu Selbstachtung erzogen, und jetzt teilst du mir mit, dass du all das für einen 3-D-Postkarten-Jesus aufgegeben hast? Ich würde ja lachen, wenn es nicht so verdammt traurig wäre!
Wage es nicht,
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