Weisser Oleander
rückte auf ihrem Stuhl hin und her und ließ ihn absichtlich quietschen. Starr winkte ungeduldig in Carolees Richtung, stupste mich an und deutete auf den Reverend, als gebe es in diesem Raum noch irgendetwas anderes zu sehen.
Reverend Thomas erzählte die Geschichte eines jungen Mannes während der sechziger Jahre, ein gutherziger Junge, der sich dachte, er könne seinen eigenen Weg gehen, solange er keinem schadete. »Er traf einen Guru, der ihn lehrte, die Wahrheit in sich selbst zu suchen.« Der Reverend schwieg einen Augenblick und lächelte mild, so als sei der Gedanke, die Wahrheit in sich selbst zu finden, etwas völlig Absurdes, Lächerliches – ein erstes Warnsignal der Verdammnis. »Du selbst bist der Maßstab aller Wahrheit.« Er lächelte wieder, und langsam ging mir auf, dass er immer dann eine Pause einlegte und lächelte, wenn er etwas besonders missbilligte. Er kam mir vor wie jemand, der einem die Finger in den Türrahmen legte und lächelnd auf einen einredete, während er die Tür zuwarf.
»Oh, er war selbstverständlich zu seiner Zeit nicht der Einzige, der dieser Philosophie anhing«, fuhr Reverend Thomas mit leuchtenden Knopfaugen fort. »›Mach dein eigenes Ding‹, das war die Parole der Stunde. Wenn man etwas wollte, dann war es gut, eben weil man es wollte. Es gab keinen Gott, keinen Tod. Es gab nur das eigene Vergnügen.« Beim Wort »Vergnügen« lächelte er, so als sei »Vergnügen« etwas besonders Hässliches, Abscheuliches und als bemitleide er jeden, der schwach genug war, es zu schätzen. »Und wenn jemand von Verantwortung oder Konsequenzen sprach, dann wurde er lächerlich gemacht. ›Mach dich locker, Mann! Sei nicht so spießig!‹ Ja, der junge Mann hatte sich unwissentlich mit dem Sündenvirus angesteckt. Der Virus war in sein Herz gedrungen, hatte sein Gewissen geschwächt und sein Urteilsvermögen verflüssigt.« Reverend Thomas wirkte regelrecht glücklich. »Nach einiger Zeit konnte er kaum mehr einen Unterschied zwischen richtig und falsch erkennen.«
Wo hätte der Junge also anders enden sollen als bei den Manson-Mördern?
Inzwischen war ich genauso tief in meinen Stuhl gesunken wie Carolee. Von Starrs Parfum und den zischenden Worten des Reverends war mir ganz übel geworden.
Glücklicherweise hatte der junge Mann im Gefängnis eine Offenbarung gehabt. Ihm ging auf, dass er ein Opfer der todbringenden Epidemie des Sündenvirus geworden war, und mit Hilfe eines Mithäftlings fand er den Weg zum Herrn und zum lebensspendenden Serum seines Blutes. Inzwischen predigte er zu seinen Mithäftlingen und verrichtete gute Werke unter den Verzweifelten. Obwohl er schon fünfundzwanzig Jahre seiner lebenslänglichen Haftstrafe abgesessen hatte, war sein Leben nicht vergeudet. Er hatte einen Grund zu leben, er half anderen und gab die Frohe Botschaft an Leute weiter, die nie über die Begierden des Augenblicks hinausgesehen hatten. Er hatte Buße getan, war ein neuer Mensch geworden, wiederauferstanden im Herrn.
Es fiel mir nicht schwer, mir den Manson-Jungen im Gefängnis vorzustellen, seine Hartherzigkeit, seine verquere Denkweise. Dann war etwas passiert. Ihm war ein Licht aufgegangen und hatte ihn die schreckliche Wahrheit seines Verbrechens erkennen lassen. Ich stellte mir vor, welche Gewissensqualen er gelitten haben musste, als er erkannte, was für ein Monster er geworden war, und ihm aufging, dass er sein Leben für nichts und wieder nichts zerstört hatte. Er hätte sich umbringen können; er war bestimmt kurz davor gewesen. Doch dann schöpfte er neue Hoffnung, dass noch ein anderes Leben möglich sei, dass es trotz allem einen Sinn gab. Und er betete, und der Geist trat in sein Herz ein.
Statt die ihm verbleibenden Jahre voller Hass als lebende Leiche in San Quentin zu verbringen, verwandelte er sich in einen Menschen, der eine Lebensaufgabe hatte, jemanden, der das innere Licht trug. Das verstand ich. Ich glaubte es.
»Es gibt eine Antwort auf diese tödliche Epidemie, die unsere Lebenssubstanz verwüstet«, sagte Reverend Thomas und hob die Arme empor, als wolle er die Massen umschlingen. »Einen wirkungsvollen Impfstoff gegen die verheerende Infektion des menschlichen Herzens! Doch wir müssen die Gefahr erkennen, in der wir schweben. Wir müssen die ernste Diagnose akzeptieren, dass wir, indem wir nach unseren eigenen Bedürfnissen gelebt haben, statt Gottes Plan zu folgen, von dieser schrecklichen Plage infiziert worden sind. Wir müssen unsere
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