Weisser Oleander
mir zu raten, ich solle Jesus als meinen Heiland annehmen und meine Seele im Blut des Lammes waschen. Versuch nicht, mich zu erlösen! Ich bereue GAR NICHTS. Jede Frau, die auch nur über einen Funken Selbstachtung verfügt, hätte dasselbe getan wie ich.
Die Frage nach der Natur von Gut und Böse wird immer eines der faszinierendsten Themen der Philosophie sein, zusammen mit dem Problem der Existenz selbst. Ich störe mich nicht an deiner Themenwahl, nur an deinem intellektuell verkümmerten Ansatz. Wenn böse sein bedeutet, selbstbestimmt zu handeln, der Mittelpunkt seines eigenen Universums zu sein und nach seinen eigenen Maßstäben zu leben, dann ist jeder Künstler, jeder Denker, jeder Freigeist böse. Weil wir es wagen, die Welt mit unseren eigenen Augen zu sehen, statt Klischees nachzuplappern, die uns von den so genannten Vätern eingetrichtert wurden. Erkenntnis wagen heißt, den Göttern das Feuer zu stehlen. Das ist das Schicksal der Menschheit, die Antriebskraft, die uns als Rasse vorwärtsbringt.
Ein dreifaches Hoch für Eva!
Mutter.
Ich betete für ihre Erlösung. Sie hatte ein Leben genommen, weil jemand sie gedemütigt hatte, ihr Bild von sich als Walküre, als unbefleckte Kämpferin verletzt hatte. Ihre Schwäche enthüllt hatte, die nur Liebe gewesen war. Deshalb hatte sie sich gerächt. Es ist so leicht zu rechtfertigen, schrieb ich ihr. Du hast das nur getan, weil du dich als Opfer fühltest. Wenn du wahrhaft stark gewesen wärst, hättest du die Demütigung ertragen können. Nur Jesus kann uns stark genug machen, den Versuchungen der Sünde zu widerstehen.
Sie antwortete mit einem Milton-Zitat, Satans Worten aus dem »Verlorenen Paradies«:
Wenn auch die Schlacht verloren,
Alles ist nicht verloren. Denn der Wille,
Der unbesiegbar ist, des Rachsinns Eifer,
Zeitloser Hass, Mut, der sich nie ergibt,
Noch unterwirft, noch was sonst unbezwinglich,
Das soll sein Zorn nicht, noch Gewalt durch ihn,
Als höchste Glorie, mir je entreißen .
Onkel Ray brachte mir das Schachspielen bei, unterstützt durch das Buch »Bobby Fischer lehrt Schach«. Er hatte es sich in Vietnam selbst beigebracht. »Dort musste ich ziemlich viel Zeit totschlagen«, sagte er und ließ seine Finger über den spitzen Hut eines weißen Bauern gleiten. Er hatte das Spiel dort selbst geschnitzt, vietnamesische Könige, Buddhas als Läufer, Pferde mit runden Backen und frisierten Mähnen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie lange er mit dieser Arbeit zugebracht hatte, geduldig mit einem Schweizer Offiziersmesser schnitzend, während um ihn herum die Bomben einschlugen.
Mir gefiel die Ordnung und kühle Logik des Schachspiels; ich hatte Vergnügen an den geduldigen kleinen Schritten. Wir spielten meistens abends, wenn die Jungen fernsahen und Starr an den Treffen der Anonymen Alkoholiker oder der Kokainabhängigen teilnahm oder die Bibelstunde besuchte. Onkel Ray hatte eine kleine Pfeife mit Dope neben sich auf der Sessellehne liegen, die er rauchte, während er auf meinen nächsten Zug wartete.
An diesem Abend schauten sich die Jungen eine Natursendung an. Owen, der Kleinste, lutschte am Daumen und hielt seine Plüschgiraffe umklammert, während Peter in einem fort eine Haarsträhne um seinen Finger wickelte. Davey erklärte ihnen die Sendung und deutete immer wieder auf den Bildschirm. »Das ist Smokey, er ist das Alphamännchen.« Der flackernde Fernseher spiegelte sich in seinen Brillengläsern.
Onkel Ray wartete auf meinen nächsten Zug und betrachtete mich dabei in einer Weise, die mein Herz aufgehen ließ wie eine Mondwinde; seine Augen glitten über mein Gesicht, meinen Hals, mein Haar, das mir über die Schultern hing und im flimmernden Licht des Fernsehers die Farbe wechselte. Auf dem Bildschirm war gerade eine weite Schneefläche zu sehen; Wölfe jagten paarweise, ich sah ihre merkwürdigen gelben Augen. Ich fühlte mich wie ein noch nicht entwickeltes Foto, das unter Rays Blicken allmählich Gestalt gewann.
» O nein!«, sagte Owen und presste die Giraffe mit dem gebrochenen Genick an sich, als die Wölfe einen Hirsch angriffen und ihm an die Kehle gingen.
»Das ist das Gesetz der Natur«, sagte Davey.
»Da, schau dir das nur an.« Ray deutete mit dem schwarzen Läufer in Richtung Bildschirm. »Genauso isses: Wenn Gott den Hirsch retten wollte, müsste er den Wolf verhungern lassen. Wieso sollte er also manche Menschen bevorzugen und andere nicht?« Er hatte sich nie ganz mit meiner Bekehrung zum
Weitere Kostenlose Bücher