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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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formbar.
    »Das Gefängnis bekommt mir gut«, sagte sie. »Hier gibt es keine Heuchelei. Hier heißt es töten oder getötet werden, und alle wissen das.«
    »Ich habe dich so vermisst«, flüsterte ich.
    Sie legte den Arm um mich, hielt ihren Kopf dicht neben meinem. Sie drückte mir mit ihren Händen die Stirn, presste die Lippen an meine Schläfe. »Ich werde nicht ewig hier bleiben. Es braucht schon mehr als das, um mich hinter Gittern zu halten! Das verspreche ich dir. Ich werde hier rauskommen, so oder so. Eines Tages wirst du aus dem Fenster schauen – und ich werde da sein.«
    Ich sah ihr entschlossenes Gesicht an, die Wangenknochen scharf wie Rasierklingen. Ihr Blick ließ mich glauben, was sie sagte. »Ich hatte Angst, dass du wütend auf mich bist.«
    Sie hielt mich auf Armeslänge von sich weg, um mich anzuschauen, ihre Hände umklammerten meine Schultern. »Wieso hast du denn das geglaubt?«
    Weil ich nicht gut genug lügen konnte. Doch ich brachte den Satz nicht über die Lippen.
    Sie umarmte mich wieder. Am liebsten wäre ich für immer dort in ihren Armen geblieben. Ich würde eine Bank ausrauben und verurteilt werden, sodass wir für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben könnten. Ich wollte mich in ihrem Schoß zusammenrollen, in ihrem Körper verschwinden, ich wollte eine ihrer Augenwimpern werden oder ein Blutgefäß in ihrem Oberschenkel, ein Leberfleck auf ihrem Nacken.
    »Ist es sehr schlimm hier? Tun sie dir weh?«
    »Nicht so wie ich ihnen«, sagte sie, und ich wusste, dass sie in diesem Augenblick lächelte, obwohl ich nur den Ärmel ihres Jeanskleides und ihren immer noch leicht gebräunten Arm sehen konnte. Ich musste mich aus ihrer Umarmung lösen, um ihr ins Gesicht zu schauen. Ja, sie lächelte tatsächlich; ihr halbes Lächeln, der kleine, wie ein Komma geformte Bogen ihres Mundwinkels. Ich berührte ihren Mund. Sie küsste meine Finger.
    »Sie wollten mich für die Büroarbeit einteilen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich eher Toiletten reinigen als ihren bürokratischen Scheiß tippen würde. Oh, sie machen sich nicht besonders viel aus mir. Jetzt bin ich bei der Bodentruppe. Ich fege, zupfe Unkraut, aber natürlich nur innerhalb des Zauns. Man hält mich für ein geringes Sicherheitsrisiko. Stell dir vor. Ich werde nicht für sie die Analphabeten unterrichten, Schreibkurse abhalten oder sonst irgendwie der Maschinerie Futter geben. Ich will nicht dienen . « Sie steckte die Nase in mein Haar und roch an mir. »Dein Haar riecht nach Brot. Nach Klee und Muskatnuss. Ich will dich genauso in Erinnerung behalten, in diesem hoffnungsvoll-traurigen rosa Kleid und den brautjüngferlichen Abschlussballschuhen. Ohne Zweifel von deiner Pflegemutter. Rosa – das ultimative Klischee!«
    Ich erzählte ihr von Starr und Onkel Ray, den anderen Kindern, von Geländemotorrädern, Paloverde und Eisenholzbäumen, den Farben der Felsen im ausgetrockneten Flussbett, vom Berg und den Habichten. Ich erzählte ihr vom Sündenvirus. Ich liebte den Klang ihres Lachens.
    »Du musst mir unbedingt Zeichnungen schicken«, sagte sie. »Du konntest immer schon besser zeichnen als schreiben. Mir fällt auch keine andere Erklärung dafür ein, dass du mir nicht geschrieben hast.«
    Ich durfte ihr schreiben? »Du hast mir auch nie geschrieben.«
    »Du hast meine Briefe nicht bekommen?«, fragte sie. Und verschwunden war ihr Lächeln, ihr Gesicht leer und ernüchtert, maskenähnlich wie das der Frauen hinter der Absperrung. »Gib mir deine Adresse. Ich werde direkt an dich schreiben. Und du schreibst mir auch direkt, schick es nicht über deinen Sozialarbeiter. Mein Fehler. Oh, wir werden schon dazulernen.« Die Energie kehrte wieder in ihre Augen zurück. »Wir sind schlauer als die, ma petite .«
    Ich kannte meine Adresse nicht, doch sie nannte mir ihre und ließ sie mich wieder und wieder nachsprechen, damit ich sie nicht vergaß. Mein Gedächtnis rebellierte gegen die Anschrift meiner Mutter: Ingrid Magnussen, Häftling W99235, California Institution for Women, Corona-Frontera.
    »Wo immer es dich hin verschlägt, schreib mir. Schreib mir mindestens einmal pro Woche. Oder schick mir Zeichnungen, die visuelle Stimulation an diesem Ort lässt weiß Gott einiges zu wünschen übrig. Besonders gern möchte ich die Ex-Stripteasetänzerin sehen – und Onkel Ernie, den ungeschickten Schreiner.«
    Ihre Bemerkung tat mir weh. Onkel Ray war da gewesen, als ich ihn gebraucht hatte. Sie kannte ihn noch nicht mal. »Er heißt

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