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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Ray, und er ist sehr nett.«
    »Oh«, sagte sie. »Hüte dich bloß vor Onkel Ray, besonders wenn er ach so nett ist.«
    Doch sie war hier eingesperrt, und ich war dort draußen. Ich hatte einen Freund. Sie konnte ihn mir nicht wegnehmen.
    »Ich denke die ganze Zeit an dich«, sagte sie. »Besonders nachts. Ich stelle mir vor, wo du gerade bist. Wenn es im Gefängnis still geworden ist und alle schlafen, stelle ich mir immer vor, ich könnte dich sehen. Ich versuche eine Verbindung zu dir aufzunehmen. Hast du mich je rufen gehört, meine Anwesenheit in deinem Zimmer gespürt?« Sie streichelte eine meiner Haarsträhnen zwischen den Fingern, zog sie lang und prüfte ihre Länge an meinem Arm. Sie reichte mir bis zum Ellbogen.
    Ich hatte sie tatsächlich gespürt, hatte sie rufen gehört. Astrid? Bist du wach? »Spät nachts. Du konntest noch nie besonders gut schlafen.«
    Sie küsste mich auf den Kopf, genau auf den Scheitel. »Du aber auch nicht. So, jetzt erzähl mir mehr von dir. Ich will alles über dich wissen.«
    Es war ein ungewohnter Vorschlag. Sie hatte noch nie zuvor etwas über mich wissen wollen. Doch die langen eintönigen Tage hatten sie zu mir zurückgeführt; plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie noch irgendwo eine Tochter hatte. Die Sonne kam langsam zwischen den Wolken hervor, und der Bodennebel glühte wie eine Papierlaterne.

6

    Am nächsten Sonntag verschlief ich. Wenn ich nur nicht von meiner Mutter geträumt hätte. Es war ein schöner Traum gewesen. Wir waren in Arles und liefen eine Zypressenallee entlang, vorbei an Grabstätten und Wildblumen. Sie war aus dem Gefängnis ausgebrochen; sie hatte vor dem Gebäude Rasen gemäht und war einfach davongegangen. Arles, das waren tiefe Schatten und honigfarbener Sonnenschein. Römische Ruinen und unsere kleine Pension. Wenn ich nicht so gierig an diesem Traum gehangen hätte, wäre ich rechtzeitig aufgestanden und zusammen mit den Jungen zum Flussbett gelaufen.
    So saß ich nun auf dem Vordersitz des Torino. Carolee grummelte auf der Rückbank herum, sie hatte einen Brummschädel, weil sie die ganze Nacht mit ihren Freunden Drogen ausprobiert hatte. Starr hatte sie ebenfalls im Schlaf erwischt. Im Autoradio lief Amy Grant, und Starr sang mit. Heute trug sie ihr Haar unordentlich zu einer Art Brigitte-Bardot-Frisur aufgesteckt, an ihren Ohren baumelten lange Ohrgehänge. Sie sah aus, als wäre sie auf dem Weg in eine Cocktailbar und nicht zur »Wahren Gemeinschaft Christi«.
    » Ich hasse diesen Aufstand«, flüsterte meine Pflegeschwester mir ins Ohr, während wir ihrer Mutter in die Kirche folgten. »Für ein paar Mandies könnt ich jetzt jemanden umbringen!«
    Die »Wahre Gemeinschaft« versammelte sich in einem Betongebäude mit Linoleumfußboden; statt bunten Kirchenfenstern gab es ein hohes Milchglasfenster. Vorn ragte ein modernes Holzkreuz empor, und eine Frau mit aufgetürmter Frisur spielte Orgel. Wir saßen auf weißen Klappstühlen, Carolee links von mir, das Gesicht düster vor Trotz und Kopfschmerzen; Starr gleich neben dem Gang glühte vor Aufregung. Ihr Rock war so kurz, dass ich sehen konnte, wo die dunkle Schrittverstärkung ihrer Strumpfhose begann.
    Während das Orgelspiel zu einem Crescendo anschwoll, trat ein Mann hinter das Lesepult. Er trug einen dunklen Anzug, Krawatte und glänzende schwarze Schuhe wie ein Geschäftsmann. Ich hätte eher erwartet, dass er in eine Art Robe gekleidet wäre. Sein kurzes, seitlich gescheiteltes braunes Haar glänzte unter den bunten Lampen wie Zellophan. Starr saß jetzt sehr aufrecht, in der Hoffnung, er möge sie bemerken.
    Als er zu sprechen begann, stellte ich erstaunt fest, dass er einen kleinen Sprachfehler hatte. Er sprach das lange E eher wie Ä aus, so dass »Leben« bei ihm wie »Läbben« klang. »Obgleich wir tot waren in unseren Sünden, hat er uns samt Christo läbbendig gemacht. Durch das Kreuz sind wir errettet worden. Er häbbt uns hinauf zum äwwigen Läbben.« Er hob die Hände, hob uns empor. Er war gut. Er wusste genau, wann man Spannung aufbauen und wann man wieder nachlassen musste. Nachdem er zunächst ganz leise geworden war, kam der Knüller. Mit großen glänzenden Augen, seiner kleinen platten Nase und dem breiten lippenlosen Mund, der ihn wie eine Muppet-Figur aussehen ließ – so als ob sich beim Sprechen sein ganzer Kopf öffnete und schloss –, hob er an: »Ja fürwahr, wir können wieder läbben, selbst wenn wir am Sündenvirus sterben!«
    Carolee

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