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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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vor, dass ich mir die Kleider auszog und mich ein Mann wie Onkel Ray dabei so anschaute, wie er sie immer anschaute.
    Gott, es war so heiß. Ich öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und legte mich auf den heißen Baumwollflanell.
    Und sie versteckte ihren Körper noch nicht mal, so christlich war sie auch wieder nicht. Immer die kürzesten Shorts, die engsten Tops. Man konnte genau die Stelle sehen, an der ihre Jeans in die Schamlippen hineinkrochen. Ich wünschte mir, dass mich jemand so begehrte, so berührte, wie Onkel Ray sie berührte, wie Barry und meine Mutter sich berührt hatten.
    Wenn Carolee bloß da wäre. Sie würde Witze über das Bettgestell machen oder bemerken, dass Onkel Ray sich lieber vor einem Herzinfarkt hüten solle, immerhin war er fast fünfzig; er konnte froh sein, wenn er nicht mit den Füßen voran aus Starrs Schlafzimmer getragen wurde. Er hatte Starr kennen gelernt, während sie in dem Oben-ohne-Club bediente – und überhaupt: Was für schmierige Typen gingen schon in solche Clubs! Doch Carolee war inzwischen nachts gar nicht mehr zu Hause. Sie kletterte aus dem Fenster, sobald Starr uns eine gute Nacht gewünscht hatte, und traf ihre Freunde am Wash. Sie lud mich nie ein mitzukommen. Das verletzte mich zwar, andererseits mochte ich ihre Freunde – Mädchen mit ordinärem Lachen und linkische, angeberische Jungen mit kahlrasierten Köpfen – sowieso nicht besonders.
    Ich strich mit den Händen unter meinem Nachthemd entlang und spürte die verschiedenen Hautarten an meinen Fingerspitzen – die Haare auf meinen Beinen, die weiche Haut zwischen den Oberschenkeln und die glitschige, angenehme Haut meiner Geschlechtsteile. Ich betastete die Falten, befühlte die zarte Spitze und stellte mir vor, wie raue Hände mit verkrüppelten Fingern diese verborgenen Stellen erkundeten. Auf der anderen Seite der Pressspanplatten hämmerte das Kopfteil gegen die Wand.
    In diesem Sommer schickte meine Mutter mir eine Leseliste mit vierhundert Titeln, Colette, Chinua Achebe und Mishima, Dostojewski und Anaïs Nin, D.H. Lawrence und Henry Miller. Ich malte mir aus, wie sie im Bett lag und ihre Namen wie einen Rosenkranz sprach, die Zunge über sie hinweggleiten ließ, eine Perle nach der anderen weiterschob. Manchmal fuhr Starr uns zur Bibliothek. Sie wartete dann im Auto und gab uns zehn Minuten Zeit, unsere Bücher zu holen, oder sie würde ohne uns fahren. »Ich hab das einzige Buch, das ich brauche, Missy«, sagte sie.
    Davey und ich grabschten nach den Büchern wie beim Schlussverkauf, während Peter und Owen sehnsüchtig um den Bücheropa herumstrichen, der den Kindern Geschichten vorlas. Es war besser gewesen, als Ray noch zu Hause war: Er ließ uns immer an der Bücherei raus, ging ein paar Bierchen trinken und holte uns ein oder zwei Stunden später wieder ab. Dann hörten die kleinen Jungen den Geschichten des Bücheropas zu, solange er durchhielt.
    Doch inzwischen hatte Ray eine Arbeit als Schreiner für die Innenausbauten auf einer neuen Baustelle gefunden. Ich war daran gewöhnt, ihn den ganzen Tag zu Hause zu haben, und vermisste ihn. Er hatte keine feste Arbeit mehr gehabt, seit er seine Stelle als Handwerkslehrer in der High School in Sunland an den Nagel gehängt hatte. Er war mit dem Direktor in Streit geraten, weil er sich während des allmorgendlichen Eides auf die Fahne nicht erheben wollte. »Ich hab Scheiße noch mal in Vietnam gekämpft und sogar einen beschissenen Orden bekommen«, sagte er. »Was hat dieses Arschloch gemacht? Ist auf die Scheißuniversität gegangen! Ein echter Held des Vaterlandes!«
    Der Bauunternehmer lebte in Maryland und scherte sich nicht um den Fahneneid. Ray kannte jemanden, der den Subunternehmer kannte. Ich hing also mitten im Hochsommer im Wohnwagen fest und sah Starr dabei zu, wie sie einen riesigen Wollteppich strickte, der aussah wie ein ausgekotzter Regenbogen. Ich las und zeichnete. Ray kaufte mir im Drugstore einen Kasten Wasserfarben, und ich fing an zu malen. Ich gab es auf, meine Mutter von der Existenz Jesu zu überzeugen. Es war hoffnungslos, sie musste selbst darauf kommen. Es war Gottes Wille, wie bei Dmitrij in den »Brüdern Karamasow«, einem der Bücher von ihrer Leseliste.
    Anstelle von Briefen schickte ich ihr Zeichnungen und Aquarelle: Starr mit kurzen Hosen und hohen Absätzen, wie sie gerade die Geranien mit einem Wasserschlauch besprengte. Ray, der ein Bier auf der Veranda trank und den Sonnenuntergang betrachtete. Die

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