Weisser Oleander
brachte mir bei, kleine Sachen selbst zu bauen: ein Vogelhaus, einen Bilderrahmen. Manchmal saßen wir auch nur auf der Veranda, unterhielten uns und hörten, gedämpft durch das Prasseln des Regens, die Sound-Effekte der Videospiele, »Double Dragon« und »Zaxxon«. Ray lehnte an einem der Verandapfosten, während ich auf der Hollywoodschaukel lag und mich mit einem Fuß abstieß.
Einmal kam er heraus und rauchte, eine Schulter gegen den Verandapfosten gelehnt, eine Zeit lang seine Pfeife, ohne mich anzublicken. Er schien schlecht gelaunt zu sein, sein Gesicht sah bekümmert aus.
»Denkst du manchmal an deinen Vater?«, fragte er.
»Ich hab ihn nie kennen gelernt«, sagte ich und holte mit dem herunterbaumelnden Fuß Schwung, um die Schaukel in Bewegung zu halten. »Ich war zwei, als er uns verließ oder sie ihn oder wie auch immer.«
»Hat sie dir mal von ihm erzählt?«
Mein Vater, ein Umriss, eine Form, die hauptsächlich aus dem bestand, was ich nicht wusste, eine Gestalt aus Regen. »Wenn ich sie gefragt habe, hat sie immer nur gesagt: ›Du hattest keinen Vater. Ich bin dein Vater. Du bist voll erblüht aus meinem Haupt entsprungen wie Athene.‹«
Er lachte, ziemlich traurig allerdings. »Das ist mir eine!«
»Einmal habe ich zufällig meine Geburtsurkunde gefunden. ›Vater: Anders, Klaus, kein Zweitname. Geburtsort: Kopenhagen, Dänemark. Wohnhaft in Venice Beach, Kalifornien.‹ Er wäre jetzt vierundfünfzig.« Ray war jünger als er.
Der Donner grollte, doch die Wolken waren so dicht, dass man den Blitz nicht sehen konnte. Die Schaukel quietschte, während ich hin und her schaukelte und an meinen Vater dachte: Klaus Anders, kein Zweitname. Ich hatte ein Polaroid-Foto von ihm in einem Buch meiner Mutter, »Windward Avenue«, gefunden. Sie saßen nebeneinander in einem Strandcafé, zusammen mit einer Horde anderer Leute, die alle aussahen, als wären sie gerade erst vom Strand gekommen, braun gebrannt, langhaarig und mit exotischen Perlenketten behängt; der Tisch war voll gestellt mit Bierflaschen. Klaus hatte den Arm über ihre Stuhllehne gelegt, unbekümmert und besitzergreifend. Sie sahen aus, als säßen sie in ihrem eigenen, ganz besonderen Sonnenlicht; eine Aura der Schönheit umgab sie. Sie hätten Bruder und Schwester sein können. Ein löwenartiger Blonder mit sinnlichen Lippen, der über das ganze Gesicht lächelte; sogar seine Augenwinkel verzogen sich nach oben. Weder meine Mutter noch ich lächelten so.
Das Foto und die Geburtsurkunde waren alles, was ich von ihm besaß, diese beiden Sachen und das Fragezeichen in meinem genetischen Code, all das, was ich nicht über mich wusste. »Meistens denke ich darüber nach, was er wohl über mich denken würde.«
Wir betrachteten den sepiabraun gefärbten Pfefferbaum, den Schlamm im Hof, zähflüssig wie Erinnerungen. Ray drehte sich um, sodass er sich mit dem Rücken an den Pfosten lehnen konnte, und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Hemd rutschte nach oben. Ich konnte seinen behaarten Bauch sehen. »Er denkt wahrscheinlich, dass du immer noch zwei bist. So denke ich jedenfalls an Seth. Wenn die Jungen unten am Fluss spielen, stell ich mir immer vor, dass er dort bei ihnen ist. Ich muss mir dann immer sagen, dass er inzwischen zu alt für Frösche ist.«
Klaus sah mich als Zweijährige. Mein Haar wie weiße Daunen, meine Windel voll Sand. Er stellte sich nie vor, dass ich älter geworden war. Ich könnte direkt an ihm vorbeigehen, er würde mich vielleicht sogar auf eine ähnliche Art anschauen, wie Ray es tat, und nie erfahren, dass ich seine eigene Tochter war. Ich fröstelte und zog die Ärmel meines Pullovers über die Hände herunter.
»Hast du mal daran gedacht, ihn anzurufen? Ihn zu suchen?«, fragte ich.
Ray schüttelte den Kopf. »Ich bin mir sicher, er hasst mich wie die Pest. Ich weiß, dass ihm seine Mutter allen möglichen Scheiß über mich erzählt hat.«
»Ich wette, er vermisst dich trotzdem«, sagte ich. »Ich vermisse Klaus, dabei habe ich ihn noch nicht mal kennen gelernt. Er war auch Künstler. Ein Maler. Ich stell mir immer vor, dass er stolz auf mich wäre.«
»Das wäre er bestimmt«, sagte Ray. »Vielleicht lernst du ihn eines Tages kennen.«
»Das stelle ich mir oft vor. Dass er, wenn ich mal eine berühmte Künstlerin bin, etwas über mich in der Zeitung liest und sieht, was aus mir geworden ist. Wenn ich einen mittelalten blonden Mann sehe, will ich manchmal am liebsten rufen: ›Klaus!‹, und
Weitere Kostenlose Bücher