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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Gedanke, dass es so sein musste, wenn man sich schön fühlte. Wie meine Mutter sich fühlen musste. Der Sog der Augen, die einen mitten im Flug aufs Ziel zurückzogen. Ich war gleichzeitig an zwei Orten, war nicht nur in Gedanken bei meinem Ziel, sondern war zugleich meine nackten Füße auf dem staubigen Boden, meine Beine, die muskulöser wurden, mein Busen in dem neuen BH , meine langen, braun gebrannten Arme, mein Haar, das weiß im heißen Wind wehte. Er nahm mir meine Stille, aber gab mir im Gegenzug etwas anderes: das Gefühl, erkannt zu werden. Ich fühlte mich schön, zugleich aber auch gestört. Ich war es nicht gewöhnt, so kompliziert zu sein.

7

    Im November, als die Nachmittagsluft sich blau färbte und die Sonne die Felsen in goldenes Licht tauchte, wurde ich vierzehn. Starr gab eine Party für mich, mit Papierhütchen und Luftschlangen, und lud dazu Carolees Freund und sogar meinen Sozialarbeiter, den Pikbuben, ein. Sie hatte einen Kuchen besorgt, der mit meinem Namen und einem Hawaii-Mädchen im Bastrock dekoriert war, und alle sangen »Happy Birthday«. Der Kuchen hatte eine Scherzkerze, die nicht ausgehen wollte, sodass mein Wunsch sich nicht erfüllte. Ich hatte mir bloß gewünscht, dass es immer so bleiben würde, dass mein Leben eine Party allein zu meinen Ehren sein könnte.
    Carolee hatte mir einen Handspiegel gekauft, und Owen und Peter schenkten mir eine Eidechse in einem Einmachglas, das sie mit einer Schleife verziert hatten. Von Davey bekam ich eine große Pappe, auf die er mit Tesafilm Proben von Tierkot und die dazu passenden Fotokopien von Tierspuren geklebt und anschließend sorgfältig beschriftet hatte. Starrs Geschenk war ein grüner Stretchpulli, und der Sozialarbeiter schenkte mir ein Paar strass-verzierte Haarklammern.
    Das letzte Geschenk kam von Ray. Ich öffnete das Geschenkpapier vorsichtig und sah eine Holzfläche, in die das Motiv einer Mondwinde im Jugendstil eingelegt war – das Umschlagmotiv vom ersten Buch meiner Mutter. Ich hielt den Atem an, während ich das Geschenk, ein hölzernes Schmuckkästchen, aus dem Papier nahm. Es roch nach frischem Holz. Ich strich mit den Fingern über die Mondwinde und dachte daran, wie Ray die winzigen Stücke, die gewundenen Umrisse ausgeschnitten und sie so vollkommen aneinander gefügt hatte, dass man die Übergänge im Holz gar nicht fühlen konnte. Er musste es spät abends getan haben, als ich schon schlief. Ich traute mich nicht, ihm zu zeigen, wie sehr es mir gefiel. Deshalb sagte ich nur »danke«. Doch ich hoffte, dass er es mir ansah.
    Als die Regenfälle einsetzten, verwandelte sich der Hof in ein Schlammloch, und der Fluss stieg und füllte sein riesiges Bett. Wo vorher ein breites, trockenes Tal mit Felsen und Buschwerk gewesen war, floss jetzt ein gewaltiger, dreckiger Strom, der die Farbe von Milchkaffee hatte. Teile des abgebrannten Berges seufzten und gaben dem Druck nach. Ich hätte nie gedacht, dass es so viel regnen könnte. Wir stellten in einem fort Töpfe, Kartons und Kannen unter die Löcher in Starrs Dach und leerten sie in den Hof aus.
    Nach einer siebenjährigen Trockenphase schlug das Wetter um, und all der Regen, der sich so lange zurückgehalten hatte, brach nun mit einem Mal herunter. Die Regenfälle dauerten ohne Pause über die Weihnachtsfeiertage an und verbannten uns in den engen Wohnwagen; die Jungen spielten mit der Autorennbahn und ihren Nintendo-Spielen und schauten sich immer wieder ein Video von National Geographic über Tornados an.
    Ich verbrachte meine Tage in der Hollywoodschaukel auf der Veranda, starrte in den Regen hinaus, lauschte seinem Klang auf dem Metalldach und dem Brausen des Tujunga, der durch das Flussbett donnerte, Felsen herabstürzen ließ, ganze Bäume mit sich riss und wie Kegel gegeneinander schlug. Alle Farben verwandelten sich in ein blasses Braungrau.
    Als es keine Farben mehr gab und ich mich einsam fühlte, dachte ich an Jesus. Jesus kannte meine Gedanken, er wusste alles, selbst wenn ich ihn nicht wirklich sehen oder fühlen konnte. Er würde mich davor bewahren, zu stürzen und davongespült zu werden. Manchmal legte ich mir die Tarotkarten, doch sie waren immer gleich, die Schwerter, der Mond, der Gehängte, der brennende Turm mit der herabbrechenden Krone und den Leuten, die kopfüber herunterstürzten. Wenn Ray zu Hause war, holte er manchmal sein Schachspiel; dann spielten wir, und er kiffte, oder wir gingen in den Schuppen, wo er seine Werkbank hatte, und er

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