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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Asphaltrisse an Tankstellen und Parkplätzen mit Klatschmohn, blauer Lupine und Kastillea. Selbst die Bergkuppen, auf denen im Herbst die Feuer gewütet hatten, waren mit gelben Matten aus wildem Senf überzogen, als wir in Rays altem Pick-up dahinholperten.
    Ich hatte ihm erzählt, dass ich gern die Baustelle in Lancaster sehen wollte, die Einbauschränke, an denen er gearbeitet hatte. Vielleicht könne er mich ja mal nach der Schule abholen. »Du weißt doch, wie komisch Starr seit neuestem ist«, sagte ich. Jeden Tag trat ich aus dem Schulgebäude und hoffte, seinen Pick-up mit der Jointklemme am Rückspiegel davor zu entdecken. Endlich war er gekommen.
    Die Baustelle selbst war kahl wie eine Narbe, öde, staubige Straßen mit großen, neuerrichteten Häusern. Einige hatten bereits Dächer und Wände, andere waren fertig verputzt, manche ragten noch als offene Holzgerüste skelettartig in den Himmel. Ray führte mich in das Haus, in dem er arbeitete. Dort war es sauber, die Außenarbeiten abgeschlossen, und es roch nach frischen Sägespänen. Er zeigte mir die massiven Einbauschränke aus Ahorn in der Wohnküche, das Erkerfenster, die maßgefertigten Bücherschränke, die Gartenlaube. Die Sonne schimmerte auf meinem Haar, und ich wusste genau, wie meine Mutter sich an jenem Tag im Buchladen Small World gefühlt hatte, als sie im Sonnenlicht des Schaufensters stand und meinen Vater entdeckte.
    Er führte mich durch das Haus wie ein Makler, zeigte mir das Panoramafenster im Wohnzimmer, das über zwei Stockwerke ging, die wandhängenden WC s in den zweieinhalb Bädern, das geschwungene Treppengeländer, den gedrechselten Endpfosten. »In so einem Haus habe ich gewohnt, als ich noch verheiratet war«, sagte er, während er mit der Hand über das massive Geländer strich und gegen den stabilen Pfosten drückte. Ich versuchte, mir Ray in einem Zweieinhalb-Badezimmer-Leben vorzustellen, Abendbrot Punkt sechs, eine geregelte Arbeit, Frau und ein Kind. Doch es gelang mir nicht. Selbst als er so ein Leben noch führte, war er ja in den Trop Club gegangen statt nach Hause und hatte sich in Stripperinnen verliebt.
    Ich folgte ihm nach oben, wo er mir die Ausbauarbeiten zeigte: zedernfurnierte Wäscheschränke und Sitzbänke. Im Elternschlafzimmer konnten wir das Hämmern aus den anderen Häusern und den Lärm des Bulldozers hören, der eine Parzelle für ein weiteres Haus planierte. Ray schaute durch das schmutzige Flügelfenster nach draußen auf die umliegende Baustelle. Ich stellte mir vor, wie der Raum einmal aussehen würde, wenn die Leute eingezogen waren. Lila Teppiche und blaue Rosenmuster auf den Tagesdecken, eine weiß-goldene Spiegelkommode, weiß-goldene Kopfteile an den Betten. Es gefiel mir besser so, wie es jetzt war, rötliches Holz mit seinem süßen, frischen Geruch. Ich betrachtete die Braun- und Grüntöne auf seinem Holzfällerhemd, seine Hände, mit denen er sich an beiden Seiten des Fensterrahmens abstützte, während er hinunter in den unbepflanzten Garten schaute. »Was denkst du?«, fragte ich ihn.
    »Dass sie nicht glücklich sein werden«, sagte er ruhig.
    »Wer?«
    »Die Leute, die diese Häuser kaufen. Ich baue Häuser für Leute, die darin nicht glücklich sein werden.« Sein gutmütiges Gesicht sah traurig aus.
    Ich trat näher. »Warum können sie nicht glücklich sein?«
    Er presste seine Stirn gegen das Fensterglas, so neu, dass immer noch ein Aufkleber darauf war. »Weil es immer falsch sein wird. Weil sie niemanden verletzen wollen.«
    Ich konnte seinen Schweiß riechen, scharf und streng, ein Männergeruch. Es war heiß in dem Raum mit den neuen Fenstern, mit dem berauschenden Geruch nach trockenem, frischem Holz. Ich legte ihm die Hände um die Taille, drückte mein Gesicht an die kratzige Wolle zwischen seinen Schulterblättern; etwas, was ich schon hatte tun wollen, seit er mich an jenem Sonntag in die Arme genommen hatte, als ich die Kirche geschwänzt hatte und im Wohnwagen geblieben war. Ich schloss die Augen und atmete seinen Duft ein, Marihuana, Schweiß und frisches Holz. Er bewegte sich nicht, zitterte nur und seufzte tief.
    »Du bist noch ein Kind«, sagte er.
    »Ich bin ein Fisch, der vorbeischwimmt, Ray«, flüsterte ich in seinen Nacken. »Fang mich, wenn du mich willst.«
    Einen Augenblick lang stand er still und hob wie ein ertappter Einbrecher die Hände vom Fensterrahmen empor. Dann nahm er meine Hände, drehte sie um und küsste die Innenflächen, presste sie an sein

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