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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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zitterten vor Kälte, obwohl sie lehmige Stiefel und Jacken über den Schlafanzügen trugen. Plappernd und kichernd vor Aufregung, weil sie so spät noch draußen sein durften, starrten sie die Sternschnuppen an, die wie Flipperkugeln über den Himmel zischten, die Münder weit aufgerissen, für den Fall, dass eine hineinfiel. Es war vollkommen dunkel bis auf die weihnachtliche Lichterkette, die auf der Veranda des Wohnwagens glitzerte.
    Die Fliegentür ging auf und fiel wieder zu. Ich musste mich nicht umschauen, um zu wissen, dass er es war. Ein Streichholz flackerte auf, der warme, süßliche Geruch nach Marihuana. »Sollten mal langsam die Weihnachtsbeleuchtung abnehmen«, sagte er. Er trat zu uns auf den Hof. Das Glühen seiner Pfeife in der Dunkelheit, der herbe Geruch seines Körpers, Geruch nach frischem Holz.
    »Wir haben gerade den Quadrantidenstrom«, sagte Davey. »Bald kann man vierzig in der Stunde sehen. Es ist der Meteoridstrom, der am schnellsten vorbei ist, aber auch der dichteste, abgesehen von den Perseiden.«
    Ich konnte das saugende Geräusch des Lehms an seinen Stiefeln hören, während er das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte. Ich war froh, dass es so dunkel war und er nicht sehen konnte, wie ich vor Freude rot wurde, als er näher trat und in den Himmel hinaufschaute. Als ob er sich für die Quadrantiden interessierte – als sei er deswegen herausgekommen!
    »Da!«, rief Owen. »Hast du es gesehen, Onkel Ray? Hast du?«
    »Ja, hab’s gesehen, Junge. Hab’s gesehen!«
    Er stand direkt neben mir. Wenn ich mich nur einen Zentimeter nach links bewegte, konnte ich ihn mit meinem Ärmel berühren. In der Dunkelheit, jenseits der schmalen Lücke, die zwischen uns lag, konnte ich die Hitze seines Körpers fühlen. Wir hatten noch nie so nah beieinander gestanden.
    »Hast du Zoff mit Starr?«, fragte er leise.
    Ich blies meinen warmen, dampfenden Atem in die Luft. Ich stellte mir vor, ich rauchte, wie die Dietrich im »Blauen Engel«. »Was hat sie denn gesagt?«
    »Nichts. Sie hat sich bloß in letzter Zeit ziemlich komisch angestellt.«
    Sternschnuppen warfen sich hinaus in die Leere des Alls und verglühten. Nur um des Vergnügens willen. Einfach so. Am liebsten hätte ich die ganze Nacht in mir aufgesogen.
    Ray hatte wohl einen zu kräftigen Zug aus der Pfeife genommen, hustete und spuckte aus. »Muss ziemlich schwer für sie sein, älter zu werden, wenn hübsche Mädchen im gleichen Haus heranwachsen.«
    Ich schaute weiter zu den Sternen hoch, als hätte ich seine Bemerkung nicht gehört, tatsächlich dachte ich jedoch: Sprich weiter über die hübschen Mädchen. Ich schämte mich, weil ich mir das wünschte; es war primitiv: Was spielte es schon für eine Rolle, ob man hübsch war? Das hatte ich oft genug gedacht, als ich noch mit meiner Mutter zusammen war. Man brauchte nicht schön zu sein, man musste nur geliebt werden. Doch ich konnte nicht anders, ich wünschte es mir eben. Wenn Schönheit eine Möglichkeit bot, geliebt zu werden, dann wollte ich schön sein.
    »Sie sieht immer noch gut aus«, sagte ich und dachte im Stillen, dass es nicht ganz so schwer für sie wäre, wenn er mir nicht in die Sternennacht folgen und mich nicht so ansehen würde, wie er mich ansah, und dabei seinen Mund mit den Fingerspitzen berührte.
    Doch ich wollte gar nicht, dass er aufhörte. Ich hatte Mitleid mit Starr, aber nicht genug. Ich hatte den Sündenvirus. Ich war der Mittelpunkt meines eigenen Universums, die Sterne drehten sich um mich und nahmen neue Stellungen ein, und es gefiel mir, wie er mich ansah. Wer hatte mich je angesehen, wer hatte je Notiz von mir genommen? Wenn das böse war, dann sollte Gott doch meinen Geist ändern!
    Liebe Astrid,
    erzähl mir bloß nicht, wie sehr du diesen Mann bewunderst, wie viel er sich aus dir macht. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, deine Jesus-Phase oder das plötzliche Erscheinen deines mittelalterlichen Verehrers. Du musst dir einen Jungen in deinem Alter suchen, jemanden, der sanft und schön ist. Jemanden, der zitternd auf eine Berührung von dir wartet, der dir mit gesenkten Augen eine langstielige Margerite schenkt, jemanden, dessen schmale Finger ein Gedicht sind. Leg dich nie für den Vater hin!
    Ich verbiete es dir, hast du das verstanden?
    Mutter.
    Du konntest es nicht verhindern, Mutter. Ich brauchte nicht mehr auf dich zu hören.
    Der Frühling überzog die Hügel mit gelben Feldern aus Kalifornischen Mohnblumen, sprenkelte die

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