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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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    Ihre Finger bewegten sich zwischen Rankenfußkrebsen und blauschwarzen, scharfkantigen Muscheln. Neonrote Seesterne lagen schlaff wie Dalí-Uhren auf den Felsen, umgeben von Seeanemonensträußen und violetten, stacheligen Seeigeln. Ihre Finger berührten die steifen Borsten eines Seeigels, und ich beobachtete, wie sich die trägen Stachel bewegten, belebten und nach meiner Mutter streckten, um ihre Form und Absicht zu ertasten. Sie wollte, dass auch ich ihn berührte, doch ich hatte Angst. Es war erstaunlich zu sehen, wie ihr weißes Fleisch und die purpurnen Stacheln über eine Kluft hinweg kommunizierten, die mir ebenso tief vorkam wie das Meer; ein Wunder, das sich in ein paar Kubikzentimetern Wasser abspielte. Auch mich berührte sie so, meine Wangen, meine Arme, und ich streckte mich ihr entgegen.
    El cielo es azul. Wir waren auf der Isla Mujeres, der Fraueninsel. Ich war ein kleines Mädchen in einem ausgeblichenen Kleid, sonnenverbrannt, barfuß, das Haar so weiß wie Pusteblumen. Die Straßen bestanden aus Muschelsplittern; jeden Morgen standen wir zusammen mit den Mexikanerinnen vor dem Tortillageschäft an. ¿Cuál es su nombre? Su hija es más guapa, sagten sie. Ihre Tochter ist einfach zu hübsch, und dabei strichen sie mir über das Haar. Die Haut meiner Mutter schälte sich ab wie Tünche. Ihre Augen blauer als der Himmel, azul claro.
    Ein großes Hotel, rosa- und orangerot gestrichen; ein Mann mit dunklem Schnurrbart, er roch nach gepressten Blumen. Es gab Taxis und Musik, und meine Mutter ging in bestickten schulterfreien Kleidern aus. Doch dann war er fort, und wir zogen weiter auf die Fraueninsel.
    Dort wartete meine Mutter auf etwas; worauf, wusste ich nicht. Jeden Tag kauften wir unsere Tortillas und liefen zurück zu dem kleinen, weißgetünchten Bungalow, die Umhängetasche über der Schulter, vorbei an kleinen Häusern mit vergitterten Fenstern und geöffneten Türen, durch die man wie durch einen Rahmen nach drinnen blicken konnte. Innen gab es Bilder an den Wänden, Großmütter mit Fächern; manchmal sah man Bücher. In Strandrestaurants unter freiem Himmel aßen wir Krabben mit Knoblauch, Camarones con ajo . Ein paar Fischer fingen einen Hammerhai und zogen ihn an den Strand. Er war doppelt so groß wie die kleinen Boote, mit denen die Fischer hinausfuhren, und alle kamen an den Strand, um ihn sich anzusehen, sich neben seinen gewaltigen Kopf zu stellen, der so breit war wie ich groß. Sein humorloses Grinsen enthüllte ganze Bataillone von Zähnen. Ich hatte immer Angst, wenn meine Mutter mich am Strand zurückließ, um in das weiche Blau hinauszuschwimmen. Was sollte ich machen, wenn der Hai kam, sich das Wasser plötzlich rot färbte und nur noch ihre Knochen an Land trieben?
    Immer wenn ich aufwachte, war da Demerol. Ärzte mit Gesichtsmasken, Schwestern mit weichen Händen. Blumen. Ihr Lächeln wie Nektar. Es gab Infusionen und andere Kinder, Verbände, Tom und Jerry im Fernsehen, Luftballons und Fremde . Sag es uns, sag es uns nur. SS . Beamte in Zivil. Wie sollte ich anfangen, Starr zu beschreiben; Starr, die in ihrem völlig verrutschten Nachthemd eine 38er in mein Zimmer entlud? Lieber dachte ich an Mexiko. In Mexiko waren die Gesichter wettergegerbt und weich wie Seife. Die surrenden Geräusche in meinem Zimmer waren bloß Moskitos in unserem Bungalow auf der Fraueninsel.
    In einer Vollmondnacht trieb sie etwas davon, und wir verließen die Insel nur mit unseren Pässen und etwas Geld in einem Gürtel unter ihrem Kleid. Auf der Fähre musste ich mich übergeben. Wir schliefen an einem neuen Strand, weiter im Süden. Am nächsten Tag tanzte sie mit einem jungen Mann, Eduardo, auf dem Dach seines Hotels. Alle Fenster standen weit offen, und ich konnte das Riff sehen, das Meer wie eine Linse. Das obere Stockwerk war noch nicht ausgebaut; unter einem Palmendach hingen Hängematten, und wir konnten so lange bleiben, wie wir wollten. In Playa del Carmen waren wir glücklich. Wir brausten mit Eduardo in seinem schwarzen Volare durch die Stadt und fühlten uns sehr reich, ¡Qué rico! , obwohl es in der Stadt nur zwei asphaltierte Straßen und ein Michoacán-Eiscremebüdchen gab. Bilder von schneebedeckten Vulkankegeln. Der Touristendampfer lief Playa del Carmen zweimal wöchentlich an; mit seinen fünf Decks schaukelte er auf und ab wie eine Hochzeitstorte auf großer Fahrt. Meine Mutter legte Tarotkarten in einem Café, in dem es nach dem Fettdunst der gegrillten Hähnchen

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