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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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dir.
    Freude. Beethovens Neunte, Ode an die Freude, die Aufnahme mit Solti und den Chicagoer Symphonikern. Zu denken, dass ich dich beinahe verloren hätte! Ich lebe für dich, der Gedanke, dass du lebst, gibt mir die Stärke, weiterzumachen. Ich wünschte, ich könnte dich jetzt umarmen, ich möchte dich berühren, dich festhalten, deinen Herzschlag spüren. Ich schreibe gerade ein Gedicht für dich, ich nenne es »Für Astrid, die trotz allem weiterlebt«.
    Im Gefängnis sprechen sich Neuigkeiten schnell herum, und Frauen, mit denen ich bisher noch nie geredet habe, erkundigen sich plötzlich nach deinem Gesundheitszustand. Ich fühle mich jeder von ihnen eng verbunden. Ich könnte mich hinknien und vor Dankbarkeit die schale Erde küssen. Ich will versuchen, einen Besuch bei dir durchzusetzen, doch ich mache mir keine Illusionen darüber, dass man hier viel Gnade walten lässt. Was soll ich über das Leben sagen? Soll ich ihm ein Loblied singen, weil es Dich hat leben lassen, oder es lieber verfluchen, weil es alles andere zugelassen hat? Hast du schon mal vom Stockholm-Syndrom gehört? Geiseln schlagen sich plötzlich auf die Seite ihrer Entführer, aus Dankbarkeit dafür, dass sie nicht gleich zu Anfang getötet wurden. Lass uns nicht irgendeinem hypothetischen Gott danken. Stattdessen ruh dich lieber aus und sammle Kraft für einen neuen Feldzug. Ja, ich weiß: und das, obwohl dein Leben im Augenblick nur aus Schwesternhelferinnen und langweiligen Jugendzeitschriften besteht – und vielleicht manchmal einer Morphiuminfusion, wenn du ein braves Mädchen bist.
    Sei stark.
    Mutter.
    Und sie schrieb kein einziges Mal: »Ich hab’s dir ja gleich gesagt.«
    Ein Zauberer kam zu unserer Unterhaltung ins Krankenhaus, und ich war fasziniert von seinen schönen Händen, seinen geschmeidigen, runden Gesten. Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von seinen Händen abwenden. Sie waren viel besser als alle seine Zaubertricks. Er fischte einen Papierblumenstrauß aus der Luft und überreichte ihn mir mit einer höfischen Verbeugung. So ist auch die Liebe, dachte ich mir: aus der Luft gegriffen, heiter und unwahrscheinlich. Wie Ray, der mich in seinen Fingern formte wie weiches Wachs.
    Ray. Ich versuchte, nicht an ihn zu denken, daran, warum er wohl davongelaufen war, als ich blutend auf dem Boden meines Zimmers lag, angeschossen von seiner Geliebten. Ich wusste, weshalb er nicht da gewesen war, als der Rettungswagen kam. Er hatte sich genauso gefühlt wie ich, wenn ich daran dachte, dass ich Daveys Leben ruiniert hatte. Ray konnte es nicht ertragen. Er hatte unser Verhältnis von Anfang an nicht gewollt; ich war diejenige gewesen, die es aus dem Nichts hatte entstehen lassen, nur aus meinem Verlangen heraus. Es schien so, als hätte Ray schon von unserer ersten Berührung an gewusst, was passieren würde. Jedes Mal wenn er mich ansah, hatten seine Augen mich angebettelt, ihn doch in Ruhe zu lassen. Ich wünschte, ich könnte ihn noch einmal sehen, nur einmal, um ihm zu sagen, dass ich ihm keinen Vorwurf machte.
    Manchmal wachte ich auf und war mir sicher, dass er kommen würde, in Verkleidung vielleicht, und dass wir wieder zusammen sein würden. Ich sah einen neuen Assistenzarzt, einen unbekannten Krankenpfleger, einen Besucher, der ein bestimmtes Bett auf der Kinderstation suchte, und war mir plötzlich sicher, dass er es war. Ich machte keinem von ihnen einen Vorwurf. Ich hätte wissen müssen, was passieren konnte. Nach allem, was zwischen meiner Mutter und Barry passiert war, hätte ich es eigentlich wissen sollen.
    Der Einzige, den keine Schuld traf, war Davey. Zuerst hatte ich mich gefragt, wieso Starr ihn zurückgelassen hatte. Vielleicht hatte sie gedacht, sie könne ohne ihn leichter entkommen. Vielleicht war sie so ausgerastet, dass sie ihn einfach vergessen hatte. Doch inzwischen war mir klar, dass es allein an Davey gelegen hatte. Dass er sich geweigert hatte, mitzugehen und mich auf dem Schlafzimmerboden verbluten zu lassen. Er hatte sich geweigert mitzugehen. Er hatte seine Mutter geopfert, um mich bis zur Ankunft des Rettungswagens am Leben zu erhalten. So musste es gewesen sein. Neue Wellen der Scham und Reue brachen über mich herein. Damals, an jenem ersten Tag, als er mit den kleinen Jungen auf der Veranda saß, hatte er nicht ahnen können, dass ich diejenige war, die eines Tages sein Leben zerstören würde. So wie Starr sein Modell im Wohnzimmer zertrampelt hatte, hatte ich sein Leben zertreten, als

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