Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
ich Ray hinterhergelaufen war.
    Meine Mutter schickte mir ihr Gedicht »Für Astrid, die trotz allem weiterlebt«. Es gab da ein paar Zeilen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gingen:
    Trotz aller Angst, aller Warnungen
Trotz allem
Die Fehler einer Frau sind anders als die eines Mädchens
Sie werden in Stein gebrannt,
Teil des Charakters, nicht Versehen …
    Das war viel schlimmer als »Habe ich dir doch gleich gesagt«. Ich wollte ihr Gedicht nicht wahrhaben. Ich war doch immer noch ein Mädchen, war erst vierzehn. Ich konnte immer noch gerettet werden – oder etwa nicht? Erlöst werden. Ich könnte ein anderes Leben führen; ich würde das Krankenhaus verlassen und nie mehr sündigen. Als der Physiotherapeut, ein sehniger junger Mann, freundlich und gut aussehend, mit mir flirtete, blickte ich finster. Ich brauchte den halben Tag, um einmal den Korridor hoch- und runterzugehen. Statt Demerol sollte ich nun Percodan oral einnehmen.
    Wenn ich irgendwo hätte hingehen können, hätten sie mich bereits nach zwei Wochen entlassen, doch so, wie die Dinge lagen, genas ich auf städtische Kosten, bis ich mit Hilfe einer Krücke laufen konnte und die Verbände abgenommen wurden. Dann bekam ich eine neue Pflegestelle zugewiesen und wurde aus dem Krankenhaus entlassen, im Gepäck eine Monatsration Percodan, die Briefe und Bücher meiner Mutter, das Holzkästchen und ein Poster mit Tierkot, das ein einsamer Junge für mich gebastelt hatte.

10

    Die Luft in Van Nuys war schwüler als in Sunland-Tujunga. Der Stadtteil erwies sich als wahres Königreich aus rechtwinklig angelegten Einkaufsstraßen und breiten Boulevards, Anwohnerstraßen mit flachen Einfamilienhäusern, die von ausgewachsenen Pfefferbäumen und meterhohen Amberbäumen umgeben waren. Die Gegend sah ziemlich viel versprechend aus, bis mein Blick auf ein Haus auf der anderen Straßenseite fiel. Ich betete: Bitte Jesus, lass es nicht das türkise mit dem asphaltierten Vorgarten und dem grünen Maschendrahtzaun sein.
    Die Sozialarbeiterin parkte direkt davor. Ich starrte ungläubig auf das Haus. Es hatte die Farbe tropischer Lagunen auf Postkarten aus den Sechzigern, ein syphilitischer Albtraum Gauguins. Das Grundstück bildete die einzige Lücke in einer Reihe von Laubbäumen, die die anderen Häuser der Straße einrahmten, geradezu herausfordernd hässlich in seiner Nacktheit.
    Auch die dicke Strukturglastür war türkis. Die Pflegemutter, eine breitgebaute blonde Frau mit harten Gesichtszügen, trug ein sprachloses Kleinkind auf der Hüfte. Ein kleiner Junge, der hinter seiner Mutter stand, streckte mir die Zunge heraus. Sie musterte meine Metallkrücke aus dem Krankenhaus und kniff ihre kleinen Augen zusammen. »Sie haben mir nicht erzählt, dass sie behindert ist!«
    Die Sozialarbeiterin zuckte mit den schmalen Schultern. Ich war froh, dass ich unter Percodan stand, sonst hätte ich wahrscheinlich angefangen zu heulen.
    Marvel Turlock führte uns durch ihr Wohnzimmer, das von einem gigantischen Fernseher beherrscht wurde. Gerade redete eine Talkshow-Moderatorin auf einen riesigen Mann mit Tätowierung ein. Dann ging es weiter durch einen langen Flur zu meinem neuen Zimmer, einer umgebauten Wäschekammer mit blau-grün gestreiften Vorhängen und einer Cordüberdecke auf dem schmalen Gästebett. Der kleine Junge zerrte an ihrem übergroßen T-Shirt und plärrte wie eine singende Säge.
    Zurück im Fernsehzimmer, breitete die Sozialarbeiterin ihre Papiere auf dem Couchtisch aus, bereit, dieser Frau mit dem harten Gesicht alle Details aus meinem Leben zu enthüllen. Marvel Turlock sagte mir, ich solle mit Justin im Hof spielen gehen; ihr Tonfall zeigte, dass sie gewöhnt war, Mädchen Anweisungen zu geben.
    Der asphaltierte Hof flirrte vor Hitze und war mit Spielzeug übersät, das für einen ganzen Kindergarten ausgereicht hätte. Ich sah, wie eine Katze etwas im Sandkasten verscharrte und dann weglief, ließ mich dadurch jedoch nicht stören. Justin brauste auf seinem Dreirad umher und krachte bei jeder zweiten Runde gegen das Spielhaus. Ich hoffte, er würde noch auf die Idee kommen, ein paar Sandkuchen zu backen. Mhhhm.
    Nach einiger Zeit kam das Kleinkind herausgestolpert, ein kleines blondes Mädchen mit großen wasserblauen Augen. Sie hatte ja keine Ahnung, wie schrecklich ich die Farbe Türkis fand und dass ich am liebsten gekotzt hätte, wenn ich daran dachte, wie ihre Mutter jetzt meine Akte las. Wenn ich nur im Krankenhaus hätte bleiben können, auf

Weitere Kostenlose Bücher