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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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sich mit der Faust gegen die Stirn. »Was mach ich bloß, o Gott, was mach ich bloß!«
    »Ich ruf jetzt Onkel Ray an«, sagte ich.
    Davey kannte seine Telefonnummer auswendig und wiederholte sie, während ich auf der Baustelle anrief. Eine halbe Stunde später war er zu Hause, den Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst.
    »Ich hab das nicht gewollt!«, sagte Starr und streckte die Hände theatralisch wie eine Opernsängerin vor sich aus. »Es war ein Unfall. Du musst mir glauben!«
    Niemand erwiderte etwas. Wir ließen Starr schluchzend zurück und brachten Davey in die Notaufnahme des Krankenhauses, wo sie seine Schulter wieder einrenkten und bandagierten. Wir erfanden eine Geschichte über irgendwelche Spiele am Fluss. Er ist von einem Felsen gesprungen und dabei gestürzt . Es klang selbst für mich nach einer dummen Ausrede, doch wir hatten Davey versprechen müssen, Starr herauszuhalten. Er liebte sie immer noch, trotz allem.
    Ostern. Ein reiner, kristallklarer Morgen, an dem man jeden Strauch und Felsen auf dem Berg erkennen konnte. Die Luft war so sauber, dass es schmerzte. Starr bereitete in der Küche einen Schinkenbraten zu und steckte kleine Gewürznelken in das Waffelmuster, das sie in die Oberseite des Bratens geschnitten hatte. Sie war zwei Wochen lang trocken geblieben und täglich zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen. Wir alle bemühten uns. Daveys Armschlinge erinnerte uns ständig daran, wie schlimm es werden konnte.
    Starr schob den Schinkenbraten in den Ofen, und dann fuhren wir alle gemeinsam zur Kirche, selbst Onkel Ray, obwohl er ein paar Minuten länger im Auto zurückblieb, um zu kiffen, ehe er nachkam. Ich konnte es riechen, als er an mir vorbeiging, um sich zwischen Owen und Starr zu setzen. Starrs Augen flehten Reverend Thomas um eine Dosis Lammblut an. Ich versuchte zu beten und wieder zu fühlen, dass es neben mir noch etwas Höheres gab, jemanden, den es kümmerte, was ich tat, doch das Gefühl war ein für alle Mal vorbei. Ich konnte Gottes Anwesenheit weder zwischen den Hohlblocksteinen dieser Kirche spüren noch in dem, was von meiner Seele übrig geblieben war. Starr blickte sehnsüchtig auf den zusammengesackten Jesus am Birnbaumkreuz, während Onkel Ray sich die Fingernägel mit seinem Schweizer Taschenmesser reinigte und ich darauf wartete, dass endlich der Gesang begann.
    Hinterher hielten wir an einer Tankstelle, und Onkel Ray kaufte ihr eine weiße Osterlilie, die Verheißung eines neuen Lebens.
    Zu Hause roch der ganze Wohnwagen nach dem Schinkenbraten. Starr tischte uns das Mittagessen auf, Maispüree, Ananasscheiben aus der Dose und Aufbackbrötchen. Ray und ich konnten uns nicht in die Augen blicken, weil sonst alles wieder von vorn angefangen hätte. Wir schauten die kleinen Kinder an, spielten mit unserem Essen herum und beglückwünschten Starr zu ihren Kochkünsten. Ray meinte, dass Reverend Thomas gar nicht so übel sei. Wir konnten überall hinblicken, nur nicht in das Gesicht des anderen. Ich starrte auf die kleine Schale mit rosa Pfefferminzeiscreme und Geleebohnen und musterte die weiße Lilie, die in ihrem mit Alufolie umwickelten Topf mitten auf dem Tisch stand. Wir waren nicht mehr zusammen gewesen, seit wir Davey in die Notaufnahme gebracht hatten. Wir hatten nicht über den Vorfall geredet, nicht darüber gesprochen, wie alles zu weit gegangen war.
    Den ganzen Nachmittag lang schauten wir uns die Ostergottesdienste im Fernsehen an. Rosahäutige Prediger und Chöre in aufeinander abgestimmten Satingewändern. Kirchengemeinden von der Größe eines Rockkonzerts. Hände reckten sich in die Luft wie Sonnenblumen. Er ist auferstanden, Christus, unser Herr. Ich wünschte, dass auch ich wieder an ihn glauben könnte.
    »Wir hätten auch dort hinfahren sollen«, meinte Starr. »Nächstes Jahr fahren wir in die Kristallkathedrale zu Reverend Schuller, ja, Ray?«
    »Klar«, erwiderte Ray. Er hatte sich umgezogen und die Kirchgangklamotten gegen sein normales T-Shirt und Jeans eingetauscht. Wir spielten Halma mit den Jungen und versuchten einander nicht in die Augen zu schauen, doch es war schwer, zusammen im gleichen Raum zu sein, ohne sich zu berühren, besonders, da Starr neben ihm saß und ihm eine Hand ziemlich weit oben auf die ausgewaschenen Jeans gelegt hatte. Ich konnte es mir nicht mehr länger ansehen. Nachdem Davey gewonnen hatte, ging ich hinaus und lief am Flussbett entlang. Ich musste die ganze Zeit an ihre Hand auf seinen Jeans

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