Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
Befriedigung, als ich mein Blut sah, die gleiche Befriedigung, die ich immer empfand, wenn ich die roten Risse in meinem Gesicht betrachtete, die die Leute dazu brachten, mich anzustarren und sich dann wegzudrehen. Sie dachten, ich sei schön, doch da täuschten sie sich; nun konnten sie sehen, wie hässlich und entstellt ich war.
    Ich drückte das Messer gegen mein Handgelenk, zog es leicht darüber und stellte mir vor, wie es sein würde, doch ich wusste, dass man es so nicht machte. Man musste die darunter liegende Struktur berücksichtigen.
    Und welche darunter liegende Struktur gab es hier überhaupt? Das hätte ich gern gewusst: Joey Bishop sang »Jingle Bell Rock«, Dichter schliefen auf Pritschen, die fest an der Wand installiert waren, und schöne Frauen lagen unter Männern, die drei Menüs hintereinander aßen. Kinder pressten Giraffen mit gebrochenem Hals an sich und weinten oder fuhren in Barbie-Autos aus Plastik herum; Männer mit fehlenden Fingern sehnten sich nach vierzehnjährigen Geliebten, während Frauen mit Pornostar-Figuren nach dem Heiligen Geist schrien.
    Wenn ich einen Wunsch frei hätte, Jesus, dann würde ich mir wünschen, dass meine Mutter mich endlich holt. Ich hatte genug davon, die Segel abzulecken. Genug davon, allein zu sein, allein zu gehen, zu essen und zu trinken. Ich würde es trotz allem nicht schaffen.
    Durch die Fensterläden von Olivias Haus drangen Lichtsplitter. Heute Abend kein Männerbesuch. Sie waren alle brav zu Hause bei ihren Frauen oder Freundinnen. Wer wollte schon am Weihnachtsabend eine Hure?
    O Gott. Ich hatte so viel Zeit mit Marvel verbracht, dass es bereits abfärbte. Als Nächstes würde ich wahrscheinlich rassistische Witze machen. Olivia war Olivia. Sie besaß ein paar schöne Möbelstücke und Uhren, einen Perserteppich und einen ausgestopften Papagei namens Charlie, während ich ein paar Bücher, einen Schmuckkasten, einen zerrissenen Kaschmirpullover und ein Poster mit Tierkot besaß. Gar nicht so viel Unterschied. Genau genommen hatte keiner von uns beiden besonders viel.
    Deshalb ging ich nach nebenan. Heute Nacht würde es niemand merken. In ihrem Garten roch es nach Schnittlauch. Ich klopfte und hörte ihre Schritte näher kommen. Sie öffnete die Tür. Ihr schockierter Gesichtsausdruck erinnerte mich daran, dass sie mich seit November nicht mehr gesehen hatte.
    Sie zog mich ins Haus und verschloss die Tür. Sie trug ein silbergraues Satinnachthemd und ein Negligé. Sie hatte die Musik laufen, die ich an jenem ersten Abend bei ihr gehört hatte, die Frau mit den Tränen in der Stimme. Olivia setzte sich auf die Couch und zupfte an meiner Hand, doch ich widerstand ihr. Sie brachte es kaum über sich, mich anzusehen. Narbengesicht, sagten die Kinder. Frank N. Stein.
    »Großer Gott, was ist passiert?«
    Ich hätte mir gern etwas besonders Schlagfertiges ausgedacht, etwas Kaltes und Sarkastisches. Ich wollte ihr wehtun. Sie hatte mich enttäuscht, sie hatte mich im Stich gelassen. Sie hatte keinen Gedanken an mich verschwendet. »Wo sind Sie gewesen?«, fragte ich.
    »In England. Was ist mit deinem Gesicht geschehen?«
    »Haben Sie sich in England gut amüsiert?« Ich nahm die CD -Hülle vom Tisch, eine schwarze Frau mit einem Gesicht voller Licht, sie hatte eine weiße Blume hinter das Ohr gesteckt. Sie sang etwas Trauriges, über das Mondlicht, das durch die Pinien schien. »Billie Holiday« stand auf der Hülle. Ich spürte, wie Olivia mein Gesicht anstarrte, die Narben auf meinen Armen an der Stelle, wo meine Ärmel hochgerutscht waren. Ich war nicht mehr schön. Nun sah ich so aus wie das, was ich war: eine offene Wunde. Sie würde mich nicht mehr um sich haben wollen.
    »Astrid, schau mich an.«
    Ich legte die Hülle hin. Auf dem Tisch stand ein neuer Briefbeschwerer, hellblaues feines Porzellan mit aufgelegten weißen Figuren. Er lag schwer und kühl in meiner Hand. Ich fragte mich, was sie tun würde, falls ich ihn auf die steinerne Tischplatte fallen ließ, ihn zerbrechen würde. Ich war betrunken, aber nicht betrunken genug. Ich stellte ihn wieder hin. »Übrigens ist es eine Hundewelt. Wussten Sie das? Die tun, was sie wollen. Noch dazu ist es an meinem Geburtstag passiert. Ich bin fünfzehn geworden.«
    »Was willst du, Astrid?«, fragte sie mich ruhig, schön wie immer, das glatte, unversehrte Gesicht so elegant wie eh und je.
    Ich wusste nicht, was ich wollte. Ich wollte, dass sie mich umarmte, dass sie Mitleid mit mir hatte. Ich wollte

Weitere Kostenlose Bücher