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Weißer Schatten

Titel: Weißer Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deon Meyer
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diesen Verletzungen ist die Wucht so groß, dass das Gehirn buchstäblich vor und zurück gegen die Seiten des Schädels
     stößt. Das erste Auftreffen nennen wir den Coup, das zweite ist der Contrecoup, wenn die gegenüberliegende Seite des Hirns
     ebenfalls gegen die Innenseite des Schädels prallt. Verletzt wird dabei normalerweise die Großhirnrinde. Das ist die äußerste
     Schicht des Großhirns, zwischen eins Komma fünf und fünf Millimetern dick. Die Schwellung kann je nach Situation sehr unterschiedlich
     ausfallen. Gemeinhin nennt man so etwas eine Gehirnerschütterung. Auf Afrikaans heißt es
harsingskudding
, was es recht gut beschreibt: ein Hirnbeben. Können Sie mir folgen?«
    »Ich verstehe.«
    »Gehirnerschütterungen gibt es in verschiedenen Abstufungen und mit unterschiedlichen Symptomen. Leichte Gehirnerschütterungen
     können einen nur wenige Sekunden lang schwindeln lassen, nach schweren Gehirnerschütterungen ist man bewusstlos. Die Verletzung,
     die Miss le Roux erlitten hat, ist sehr ernster Natur. Sie hat das Bewusstsein verloren, was kein gutes Zeichen ist. Bei dieser
     Art von Verletzung, wo kein Gegenstand oder Schädelknochen in das Hirn eingedrungen ist, ist die Bewusstlosigkeit normalerweise
     ein Symptom der Hirnschädigung. Nicht immer, aber häufig.«
    |179| »Doc …«
    »Bitte nennen Sie mich nicht ›Doc‹. Ich heiße Eleanor. Sie müssen verstehen, Lemmer, es ist unmöglich zu sagen, ob es bleibende
     Hirnschäden geben wird oder worin diese bestehen könnten, wenn überhaupt. Das liegt daran, welcher Bereich des Gehirns betroffen
     ist. Miss le Roux liegt im Koma, und der beste Indikator des Grades möglicher Schädigungen ist die Länge der Zeit, die sie
     komatös bleibt. Aber es gibt zwei gute Zeichen. Sie hat keine bilaterale Dilatation der Pupillen. Das heißt, beide Pupillen
     reagieren auf Licht – sie ziehen sich zusammen, wenn wir hineinleuchten. Statistisch betrachtet sterben nur zwanzig Prozent
     der Hirntrauma-Patienten mit normaler Pupillen-Reaktion. Also besteht Hoffnung, aber ich muss noch einmal betonen: Wir wissen
     nicht, wo das epidurale Hämatom liegt. In anderen Worten: eine Blutung im Hirn. Wenn sie stabil genug ist, können wir einen
     CT-Scan durchführen.«
    »Was ist das andere gute Zeichen?«
    »In Fällen wie diesen benutzen wir die Glasgow-Coma-Scale. Die Skala reicht von drei, was sehr schlecht ist, bis fünfzehn,
     normal. Die Position des Patienten auf dieser Skala wird bestimmt durch die beste Reaktion in den ersten vierundzwanzig Stunden
     nach der Verletzung. Es ist keine exakte Wissenschaft, aber die gute Nachricht ist, dass sich Miss le Roux außerhalb der Zone
     drei bis vier befindet. Im Moment ist sie eine sechs auf der Skala, und wir hoffen, dass sich das in den nächsten zwölf Stunden
     noch bessert. Die Glasgow-Skala sagt uns, dass vierunddreißig Prozent der Patienten, die zwischen fünf und sieben liegen,
     überleben, entweder ohne oder nur mit leichten Schädigungen.«
    Vierunddreißig Prozent.
    »Sie können uns einige Informationen geben, die helfen, Lemmer. Wie schnell nach dem Sturz waren sie bei ihr?«
    »Darüber muss ich nachdenken.«
    »Eine Minute? Zwei, vier, fünf?«
    Ich schloss die Augen. Ich sah den Scharfschützen im Gras, das Visier der Waffe folgte uns, der Schuss unhörbar über den |180| Lärm des Zuges hinweg, nur der weiße Rauch aus dem Lauf, wie der Atem an einem eisigen Morgen. Emma zuckte in meinen Armen
     …
    »Die Schusswunde, Eleanor? Was ist mit der Wunde?«
    »Wissen Sie mehr über den Schusswinkel?«
    »Etwa dreißig Grad, aufwärts gerichtet.«
    »Das hat sie gerettet. Die Kugel hat Lunge und Arterien verfehlt. Aber die Schusswunde ist nicht unser Hauptproblem.«
    Wie lange brauchte ich, bis ich bei ihr war?
    Wie lange hatte ich gewartet, nachdem sie gestürzt, nachdem das T-Shirt zerrissen war?
    Ich sprang wieder. Der Zug links von mir war ein rostbrauner Wirbel. Das Gras, die Schwellen, der Kies neben den Gleisen huschten
     vorbei. Ich schwebte in der Luft. Traf auf den Boden. Schulter voran, ein harter Schlag, plötzlich der Schmerz, Gesicht im
     Gras, atemlos, etwas schnitt in meinen Arm. Ich rollte mich wieder und wieder ab, dann lag ich im Gras und schaute auf die
     braune Erde. Wie lange hatte ich so gelegen? Ich wusste es nicht. Wie lange hatte es gedauert, bis ich aufstehen konnte?
    Wie weit waren die Balaclavas zu diesem Zeitpunkt entfernt? Der Zug hatte uns von ihnen weggetragen –

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