Weisser Schrecken
Frostwölkchen zeichneten sich vor seinen Lippen ab. »Spinne ich, oder ist es hier unten inzwischen noch viel kälter als oben?«
»Es wird wirklich kälter«, hauchte Elke ängstlich. Plötzlich blieb sie stehen und hielt Andreas an der Hand fest. »Pssst! Hört ihr das auch?« Die Freunde verharrten und lauschten in die Dunkelheit. Tatsächlich, in einiger Ferne hallten Schlaggeräusche auf.
»Das müssen Köhler und Konrad sein!«, wisperte Andreas und trieb seine Freunde zur Eile an. Den rotweißen Markierungen folgend, stolperten sie durch das Gewirr der niedrigen Schächte, bis sie unvermittelt in einem über und über glitzernden Gewölbe standen, das sich von allen Kammern hinter ihnen unterschied. Der Flöz war hier zu einer Art Tonnengewölbe ausgebaut worden, der mehr einem Kirchenschiff, denn einer unterirdischen Arbeitshalle ähnelte. An der Wand gegenüber brach sich das Taschenlampenlicht an einem mächtigen Altar, auf dem in bunten, mittelalterlich anmutenden Bildern die Wundertaten des Nikolaus von Myra dargestellt waren. Bilder des heiligen Bischofs schmückten auch die funkelnden Wände und über ihren Köpfen war ein umlaufendes Fries mit weiteren christlichen Abbildungen zu sehen. All das war von einem Eispanzer überzogen, der im Lampenschein wie spiegelndes Glas funkelte.
»Mann, wo sind wir denn hier gelandet?«, flüsterte Miriam. Ihre Stimme erzeugte einen leisen Hall. Andreas löste sich von Elke und musste seine Schippe zu Hilfe nehmen, um auf dem spiegelglatten Untergrund nicht auszurutschen. Warum hatte er nicht diese Spikes mitgenommen, die in Strobel in seinem Rucksack verwahrt hatte? Misstrauisch sah er sich um. Er sah nun, dass die Bilder an den Wänden mitnichten den Heiligen selbst darstellten, sondern Kinder in Bischofsgewändern. So wie in der Kirche Perchtals. Das war keine einfache Bergwerkskapelle.
»Wisst ihr was? Ich glaube, die Mönche haben die Kinderbischöfe einst hier runter gebracht«, flüsterte er.
Elke bewegte sich mit ihrer Taschenlampe tastend auf ihn zu und die anderen folgten ihr vorsichtig. Einzig Niklas rutschte aus und stürzte der Länge nach hin. Er stöhnte schmerzerfüllt, wehrte aber Miriams Versuche ab, ihm aufzuhelfen. Elke bedeutete allen, sich ruhig zu verhalten. Auch Andreas konnte jetzt Stimmen hören. Sie klangen leise und irgendwie verzerrt. Er und Elke leuchteten die Halle ab und entdeckten direkt neben dem großen Altar ein kurzes Gangstück, das vor einer niedrigen Tür mit eisernen Bändern endete. Nur, dass von der Tür nicht mehr viel übrig war. Köhler und Konrad waren ihr mit brachialer Gewalt zu Leibe gerückt. Holzsplitter lagen überall im Gang verteilt. Die beiden hatten das Hindernis regelrecht aufgehackt und dann aus der Verankerung gerissen, sodass die Tür jetzt schräg gegen die Gangwand lehnte. Hinter der Öffnung zeichnete sich ein schwachblaues Leuchten ab.
Andreas zog Elke zu sich und legte seine Hand an ihre Wange. »Ich will, das du vorsichtig bist, ja? Denk dran, dass Köhler eine Waffe hat.«
»Ich weiß.« In ihrem Blick lag eine Traurigkeit, die ihm Angst einflößte. »Doch nicht er ist es, vor dem wir uns fürchten müssen.« Andreas wusste nicht, was er erwidern sollte. Hinter ihnen war nun auch wieder Niklas aufgestanden, der sich missmutig den Ellenbogen rieb. Robert schlidderte an ihre Seite und hob entschlossen die Axt. »Also, was ist?« Andreas nickte und hob seinerseits den Spaten. Gemeinsam näherten sie sich dem Durchbruch und halfen sich gegenseitig dabei, an den Resten der Tür vorbei in den nachfolgenden Gangabschnitt zu treten. Auch hier war alles mit Eis und Schnee überzogen, und als er das Gangende erreichte, stockte ihm der Atem.
Vor ihnen erhob sich ein gewaltiger Dom aus Salz, Eis und Frost. Der Boden war unregelmäßig geformt und bildete Terrassen und Senken aus. Glitzernde Stalaktiten und Stalakmiten aus purem Eis wuchsen allerorten wie geschliffene Zahnreihen aufeinander zu und ein geisterhafter Wind trieb Schneewehen über den Boden, die beständig seltsame Formen und Muster annahmen. Andreas spürte, wie die anderen hinter ihm weiter nach vorn drängten und er musste aufpassen, nicht auszurutschen. Und doch konnte er seinen Blick nicht von den beiden riesigen, mit Frost überzogenen Standbildern abwenden, die rechts und links an der gegenüberliegenden Höhlenwand aufragten. Eines der Steingebilde besaß weibliche Konturen, blickte streng auf den Betrachter herab und war mit einem
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