Weisser Schrecken
misstrauisch.
»Ja mei, Bub, so ein altes Bücherl halt.« Das Schloss schnappte, und sie zog die Schranktüren auf. »Er wollte es heimlich stibitzen, der Haderlump. Und dabei hab’ ich ihm gesagt, dass die Bücherl hier gar nie nicht zum Mitnehmen sind. Da geht nichts, und das gilt auch für dich, dass wir uns verstanden haben, oder? Und dass du mir ja nicht auch noch Flecken drauf machst, so alt wie die Bücherl sind.« Niklas konnte endlich einen Blick auf das Schrankinnere erhaschen, in dem aufeinander gestapelt sechzig oder siebzig Bücher in alten Ledereinbänden standen. »Oh, das sind mehr, als ich dachte.«
»Geh, da schaugst! Und das ist bloß der Rest. Die sind noch aus unserer einstigen Gemeindebücherei. Leider haben sie die schon vor langer Zeit geschlossen, und das ist eine Schand’. Da tut sich halt heut’ keiner mehr für interessieren. An mir hat es freilich nie nicht gelegen. Ich habe mir seinerzeit zur Sommersausen immer einen Krimi ausgeliehen.« Frau Neuleitner griff zu einer Bibel mit schwarzem Einband und präsentierte sie Niklas stolz. »Da, schau mal, eine Hausbibel aus dem 18. Jahrhundert. Wenn du mich fragst, dann ist die heute mehrere tausend an Markl wert.«
»Hausbibeln aus der Zeit gibt es noch immer so viele, dass die einem hinterhergeworfen werden.«
»Sakra, was für’a Schand!« Enttäuscht starrte die Frau die Bibel an. »Na, du bist ja ein ganz Gewitzter. Die anderen Bücherl sind ja bloß Gelump, Spenden halt, die dem Vereinshaus von ehemaligen Mitgliedern vermacht worden sind. Suchst du was bestimmtes, eh?«
»Eigentlich suche ich ein Buch, das den Titel ›Brauchtümer des Alpenlandes‹ trägt. Das wurde uns von unserem Lehrer empfohlen.«
»Ah, da schau her! Bestimmt von eurem Geschichtslehrer, dem gespusigen Herrn Köhler. Und das sage ich, obwohl der ja drüben aus dem österreichischen stammen tut. Ich weiß ja nicht, warum die bei uns immerzu Lehrer aus der Fremde einstellen müssen. Als wenn es nicht genug Lehrer aus dem Berchtesgadener Land geben tat. Und die meisten von denen Herrn Lehrer tun den lieben langen Tag ja eh nichts. Ich meine, so ein paar Hausarbeiten hin und wieder, das wird ja wohl nicht so schlimm sein. Aber dafür wochenlang Ferien. So sieht es doch aus. Unsereins muss sich schließlich auch abplagen.« Seufzend suchte Frau Neuleitner die Regalreihen ab und griff zielsicher nach einem Band mit einem etwas labbrigen, graubraunen Umschlag. »Ah, da haben wir es ja. Hätte ich mir gleich denken können. Aber nicht, dass du ebenfalls versuchst, es zu stehlen!«
Niklas nahm ihr das Buch überrascht aus der Hand. Tatsächlich, es trug den gesuchten Titel. »Und Sie sind sich sicher, dass Konrad genau dieses Buch haben wollte?«
»Ja, freilich. Ist doch keine Woche her, dass der das Buch stibitzen wollte. Aber nicht mit mir.« Zufrieden stemmte sie die Hände in die ausladenden Hüften. »Und wenn du noch mehr über unsere schöne Heimat wissen willst, dann komm morgen ins Heimatkundemuseum. Da hab ich Dienst. Ehrenamtlich, natürlich.«
Wieso war Konrad ausgerechnet an diesem Buch interessiert gewesen? Keinesfalls war das ein Zufall. Niklas klappte den Buchdeckel auf. Der Band stammte von 1901 und war von einem Professor A. Dyroff verfasst worden. Dummerweise waren die Seiten in schwer leserlicher Frakturschrift gedruckt, doch die Kapitelübersicht ließ Niklas aufmerken: »Aberglaube im bäuerlichen Jahrablauf«, »Religiöse Feste«, »Keltisches Erbe«, »Musik aus Berg und Tal«. »Alpine Sagen« und »Von Tatzelwürmern und Wolpertingern«. Von dem Buch ging eine eigentümliche Faszination aus. Niklas beschloss, es in seinen Besitz zu bringen, koste es, was es wolle. Ihm kam eine Idee. Er betrachtete den Band noch einmal von allen Seiten. Ja, das sollte passen. »Aber was rausschreiben, das darf ich doch, oder?«
»Natürlich. Hauptsache, du beschädigst es nicht.«
Niklas legte seine Schultasche ab und kramte angestrengt ein Schreibheft hervor. »Mist. Ich hab gar keine Stifte dabei. Haben Sie vielleicht einen?«
»Ich? Nein: Aber drüben im Büro müsste was zum Schreiben sein.« Frau Neuleitner marschierte rüber in den Nachbarraum. Niklas schnappte sich sein Mathebuch und schlug es schnell in den graubraunen Umschlag des alten Brauchtums-Buches ein. Letzteres ließ er rasch in seinem Ranzen verschwinden.
»Kann es auch ein Kuli sein?«, tönte es von nebenan. Niklas machte die Schultasche wieder zu. Keinen Augenblick zu spät, denn
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