Weisser Schrecken
Schnee rüber zum Eingang des Vereinsheims.
Inzwischen war es deutlich düsterer im Tal geworden, und er konnte durch die beleuchteten Fenster hindurch sehen, dass sich im großen Saal einige Frauen des Perchtaler Heimatvereins mit ihren Spinnrädern versammelt hatten. In Perchtal wurde Wert daraufgelegt, dass selbst das Garn für die bunten Trachten möglichst aus eigener Fertigung stammte. Niklas betrat den Saal und entdeckte Frau Knoll, die zweite Vorsitzende des Heimatvereins. Sie saß wie die anderen Frauen auch hinter ihrem Spinnrad.
»Guten Tag Frau Knoll, ich bin der Eichelhuber Niklas.« Die hoch gewachsene Perchtalerin sah ihn überrascht an. Dass ihn die anderen Damen hinter ihren Spinnrädern nicht weiter beachteten, war Niklas nur recht. Sie schauten gemeinsam eine aufgezeichnete Folge der ›Superhitparade der Volksmusik‹ mit Marianne und Michael. Soeben trällerte Angela Wiedl ihr Lied ›Wenn der Berg dich ruft!‹.
»Na, ich kenn doch den Sohn von unserem Bäckermeister. Was kann ich für dich tun?«
»Ich bin hier, weil ich hoffe, dass sich hier noch Bestände der alten Bücherei befinden.«
»Ja, wenn ich mich nicht irre, haben wir tatsächlich noch Bücher aus der alten Gemeindebücherei. Ich glaube, oben.« Frau Knoll wandte sich dem Tresen zu, wo eine dickliche Mittvierzigerin einen Kuchen anschnitt. Niklas kannte auch diese Frau vom Hörensagen: Frau Neuleitner. Soweit er wusste, tat sie sich ebenso wie die Knoll bei allen möglichen ehrenamtlichen Tätigkeiten hervor. »Rosi, im Obergeschoss ist doch so ein Schrank mit irgendwelchen Büchern, richtig?«
Frau Neuleitner sah von ihrem Kuchen auf. »Ja, freilich. Warum?«
»Der Junge möchte sich gern was ausleihen.« Zwinkernd wandte sich Frau Knoll Niklas zu. »Frau Neuleitner hütet nämlich unseren Schlüssel für den Technikraum. Mit etwas Glück passt der auch oben.«
Rosemarie Neuleitner wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und kramte in ihrer Rocktasche. Mit einem bedauernden Blick in Richtung Fernseher bedeutete sie Niklas, sie zur Treppe zu begleiten. Der schulterte seinen Ranzen und folgte ihr schnaufend nach oben. »Das ist für eine Hausarbeit in deiner Schule, stimmt’s?«, fragte sie.
»Ja, stimmt«, log Niklas. »Aber woher wissen Sie das?«
»Na, weil sie uns wegen unsere Bücherl die Tür einrennen tun, wie schon lange nicht mehr«
»Tatsächlich?« Niklas schob sich die Brille verwundert zurecht, während er versuchte, mit der Neuleitner Schritt zu halten. Die steuerte, kaum im Flur des Obergeschosses angelangt, einen Eichenschrank mit bunt bemaltem Blumendekor an. Er stand im Gang neben der Tür zu einem Büroraum, in dem mittig ein Tisch mit großer Schreibmaschine und zahlreichen Ordnern zu sehen war. Neben dem Schrank hing ein Plakat aus dem vergangenen Sommer, das eine Bustour nach München samt Besichtigung des Glockenspiels im Rathaus ankündigte.
»Aber freilich. Du bist nicht der Erste«, plapperte sie weiter. »Und wenn’s nach mir ging, dann solltet ihr junge Leut euch viel mehr mit dem abgeben, was euer Daheim ist. Wir sind ja hier nicht bei den Preußen, wo’s auch noch stolz darauf sind, alles von diesen Amerikaner-Fuzzies zu übernehmen. Oder vom Türken. Heut’ musst du ja schon droben in München mehr als eine Stund’ suchen, bis du eine gescheite Leberkassemmel oder eine Laugenbrezn findst. Da haben sie bloß noch diese Burger-Ketten und die Dönerbuden. Und wer weiß, was die Polaken oder die Russ’n für Zeugs zu uns bringen tun. Und nicht bloß die. Seit der selige Strauß Franz-Josef nicht mehr ist, seither …«
»Wer war denn schon vor mir hier, Frau Neuleitner?«, unterbrach Niklas den Redefluss der Dicken.
»So förmlich haben wir es hier nicht, Bub. Frau Rosi ist schon recht.« Sie steckte einen Schlüssel in das Schrankschloss. »Das war der Toschlager Konrad. Du weißt schon, der Sohn vom Vieh-Schlachter. Vor einer Woche mag es gewesen sein. Geht der nicht mir dir zusammen auf die Schule? Was für ein Lausbub, ein echter Schlawiner. Aber mich wunderes nicht, seine Bagage stammt ja zur Hälfte aus Hessen. Weißt, seine Mutter ist nämlich eine Zugereiste. Angeblich aus Darmstadt. Dabei weiß doch jeder, wie die Hessen sind. Ich weiß ja nicht, warum der Toschlager eine Frau von auswärts sich hat suchen müssen. Als wenn es hier in Perchtal nicht genug anständige Weibsbilder geben tat.«
»Und wissen Sie, was der Konrad hier gesucht hat?«, fragte Niklas
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