Weisser Schrecken
Dach und Wänden. Doch sonst passierte nichts.
»Hört uns jemand?«, ergriff Elke das Wort. »Ist jemand bei uns?«
Jäh rutschte das Glas unter ihren Fingern in Richtung Ja.
»Scheiße, hör endlich auf damit«, herrschte Robert Andy an. Der sah ihn bestürzt an.
»Das war ich nicht«, keuchte er. »Ich schwöre, das war ich nicht.«
Miriam war einen Moment lang ebenso paralysiert wie ihre drei Freunde. Draußen heulte der Wind, und noch immer starrten sie alle fassungslos auf das Glas, das auf dem Wort Ja stand. »Seid ihr böse Geister?«, ergriff sie jetzt selbst das Wort und konnte ein leichtes Zittern nicht vermeiden. Langsam rutschte das Glas unter ihren Fingern über den inneren Zahlenring hinweg, hinüber zur andere Seite des Alphabetkreises, bis es auf dem Wort Nein zum Stehen kam.
»Scheiße, und ihr bewegt das Glas wirklich nicht absichtlich?«, fragte Robert leise. Mit einem Zischen gab ihm Elke zu verstehen, dass er sich ruhig verhalten sollte. Miriam atmete tief ein.
»Seid ihr unsere Geschwister?«
Seltsamerweise rührte sich das Glas nicht. Miriam sah zu ihren Freunden auf, die ebenso ratlos wirkten wie sie selbst. Sollte das Nein bedeuten?
»Wer bist du, Geist?«, flüsterte sie.
Ein Ruck ging durch das Wasserglas, und einen Moment lang beschlich Miriam ein Gefühl, als klebten ihre Fingerspitzen unauflöslich auf dem Glasrand. Im Zickzack huschte der Anzeiger über das Seidentuch, von Buchstabe zu Buchstabe: D … O … R … L … E. »Oh Mann«, entfuhr es Andy mit gepresster Stimme. »Doch nicht etwa diese Dorle Brunner, die ’62 verschwunden ist?«
Miriam wusste nicht, ob er das bloß zu sich selbst gesagt hatte, doch das Wasserglas rutschte jetzt in Richtung Ja.
Sie fröstelte. »Bist du allein, Dorle?« Sie sah, wie das Glas unter ihren Fingern quer über das Hexenbrett in Richtung Nein glitt. »Wer ist bei dir?« Abermals sauste das Glas im wilden Zicksack über das Tuch: W … I … R … A … L … L … E.
»Leute, das wird mir langsam zu gruselig«, stöhnte Elke, die direkt neben ihrer Schwester saß. Sonst war sie immer so mutig, doch im Moment sah sie so aus, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht.
»Warum seid ihr hier?«, fragte Miriam und spürte sogleich, wie sich das Glas wieder in Bewegung setzte. G … E … F … A … H … R.
Andy sah alarmiert in die Runde, doch Miriam ließ sich nicht beirren. »Warum wir?« Sogleich setzte sich das Wasserglas wieder in Bewegung. A … U … F … G … A … B … E.
»Teufel, was für eine Aufgabe?«, fragte Andy in das Lärmen des Windes hinein. R … A … D … I … O …
»Radio?«, sprach Robert das Wort verstört aus.
»Oh Mann, ich glaube ich weiß, was die wollen.« Andy löste den Finger vom Glas und erhob sich langsam. Er sah blass aus. Miriam wollte schon protestieren, als er mit seiner Taschenlampe in Richtung des Regals auf der Rückseite des Schuppens leuchtete. »Andy, du kannst doch nicht einfach …«
»Warte doch mal.« Er trat ins Dunkel und kam kurz darauf mit dem alten Radiogerät zurück, das er vorhin zwischen den anderen Dingen im Schuppen gefunden hatte.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Robert starrte mit käsigem Gesicht zu ihm auf.
»Wollen wir jetzt mehr erfahren oder nicht?«, fragte Andy.
»Das Ding ist doch völlig hinüber«, gab Robert zurück. Unter der Tür blies der Wind etwas Pulverschnee in den Schuppen, und das Licht der Laterne flackerte.
Andy schüttelte das Gerät, drückte den Einschaltknopf und presste das Radio gegen sein Ohr. Fahrig öffnete er ein Fach an der Rückseite und entnahm ihm einige rostbraun angelaufene Batterien.
»Robert, ich brauche die Batterien aus deiner Taschenlampe.«
»Alter, du hast sie doch nicht mehr alle. Warum nimmst du nicht die aus deiner Lampe, wenn du dich schon auf so einen Irrsinn einlässt?«
»Weil die verdammt noch mal nicht passen. Und jetzt mach schon!«
Miriam hörte, wie Robert tief einatmete und seine Taschenlampe ausknipste. Schlagartig wurde es im alten Bootshaus dunkler. Miriam drängte sich sogleich näher an ihre Schwester heran, die ebenso wie sie dabei zusah, wie Robert seine Taschenlampe aufschraubte und die Batterien Andy reichte. Der war längst dabei, mit seinem Taschenmesser die Kontakte des alten Radios zu reinigen, und legte nun die Batterien ein. Gespannt schaltete er den Transistor an. Zunächst geschah nichts, doch plötzlich glühte das Fensterchen des Sendersuchlaufs in hellem Grünton auf, und
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