Weisser Schrecken
aus dem Lautsprecher drang ein atmosphärisches Pfeifen. Andy verstellte den Sendersuchlauf, doch das Pfeifen und Rauschen schwollen lediglich an und wieder ab und wechselten mit anderen Störgeräuschen. Miriam fühlte, wie ein kalter Luftzug über ihr Gesicht strich. Unruhig geisterten ihre Schatten über die Wände.
»Seid ihr sicher, dass wir das wirklich wollen?«, fragte sie in kläglichem Tonfall. »Ich habe ein ganz ungutes Gefühl dabei.«
»Ja, ich auch«, presste Elke hervor. »Ich glaube, wir gehen zu weit.«
»Das war doch eure Idee!« Andy suchte noch immer nach einem Kanal, als die Störgeräusche abrupt endeten und blecherne Kinderstimmen den Schuppen mit weihnachtlichem Gesang erfüllten: Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Fraun, kommet, das liebliche Kindlein zu schaun. Christus der Herr, ist heute geboren, den Gott zum Heiland, euch hat erkoren. Fürchtet euch nicht … Fürchtet euch nicht …
Kreidebleich sahen sich die Freunde an.
»Kacke!«, keuchte Robert. »Das sind die gleichen Kinderstimmen wie gestern im Fernseher. Oder auf dem Tonband in der Leichenhalle.« Der Gesang verstummte und wich einem leisen Rauschen. Andy, der das Radio angespannt von sich fernhielt, stellte es nun vorsichtig auf dem alten Gartenstuhl ab, auf dem vorhin noch Roberts Lampe gelegen hatte. Anschließend kniete er nieder. Unruhig biss er sich auf die Lippe.
»Also, wie sieht es aus? Machen wir weiter?« Miriam und Robert warfen sich unsichere Blicke zu, doch Andy achtete eh nur auf Elke. Erst als sie nickte, stellte er erneut eine Frage.
»Wo seid ihr zu Tode gekommen?«
Im Lautsprecher fiepte es, und wie aus weiter Ferne tönte neuerlicher Kindergesang: O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter. Du grünst nicht nur zur Sommerzeit, nein auch im Winter, wenn es schneit … Knisternd brach der Gesang ab, und die Freunde sahen sich betroffen an.
»Oh Gott, offenbar irgendwo im Forst«, ächzte Andy.
»Wer ist für euren Tod verantwortlich?«, fragte Elke mit belegter Stimme. Sie beugte sich sogar etwas vor, um die Geräusche im Radio besser verstehen zu können. Kurz darauf schlugen ihnen wieder singende Kinderstimmen entgegen.
Morgen, Kinder, wird’s was geben. Morgen werden wir uns freun … Unter Störgeräuschen brach das Lied ab, um mehrere Textzeilen später mit gleicher Melodie fortzufahren: Unsre lieben Fitem sorgen, lange, lange schon dafür. O gewiss, wer sie nicht ehrt, ist der ganzen Lust nicht wert …
Miriam schlang sich zitternd die Arme um den Körper.
»Leute, das wird jetzt wirklich zu unheimlich. Bitte, lasst uns abbrechen.«
»Komm, nur noch ein paar Fragen. Wir machen auch nicht mehr lange«, meinte Andy aufgeregt. »Was ist das für eine Gefahr, vor der ihr uns warnen wollt?« Es rauschte im Lautsprecher. »Welche Gefahr?«, wiederholte er etwas lauter und umklammerte das alte Radio erregt. Unvermittelt schlugen ihm die kindlichen Singstimmen entgegen. Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind … Es knisterte, und schlagartig änderte sich das Lied der kehligen Stimmchen. Es tanzt ein Bi-ba Butzemann, in unserm Haus herum, dideldum. Es tanzt ein Bi-ba Butzemann, in unserm Haus herum. Er rüttelt sich, er schüttelt sich. Er wirft sein Säckchen hinter sich … Schrille Pfeiflaute gellten aus dem Lautsprecher, und abermals wechselte der Gesang: Stille Nacht! Heilige Nacht! Lange schon uns bedacht … Als der Herr vom Grimme befreit. In der Väter urgrauer Zeit. Aller Welt Schonung verhieß! Aller Welt Schonung verhieß …!
Bleich sah Andy in die Runde. Miriam und Elke hielten sich längst am Arm fest, und auch Robert saß mit offenem Mund da. Plötzlich veränderte sich der Gesang. Eine düstere Bassstimme spülte die blechernen Kinderstimmen förmlich davon: O Heiland reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für …
»Da stimmt was nicht«, keuchte Elke. »Andy, wir sollten abbrechen. Jetzt!«
»Warte, nur noch eine Frage!« Er stellte das alte Radio zurück auf den Stuhl. »Welche Aufgabe ist uns zugedacht? Welche Aufgabe?« Es zischte und fiepte, und die atmosphärischen Störungen klangen wie prasselnder Hagelschlag. Abermals drang aus dem Lautsprecher Kindergesang, doch er wirkte eigentümlich weit entfernt. Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit: s ist, als ob Engelein singen, wieder von Frieden und Freud! Wie sie
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