Weisser Schrecken
spricht: »Ihr frommen Kinder,
ihr sollt mir alles Gute han!
Ich bring euch für den Winter hier Äpfel und Birnen und Mandelkern,
Lebkuchen und Nüsse und Zuckerstern;
da füllt euch Kappen und Taschen!«
Die Kinder klauben und freuen sich sehr;
doch finster brummt der Alte:
»Nun gebt mir die bösen Buben her,
die trag ich mit fort zum Walde!« Der Vater spricht: »Sie sind alle brav und brauch weder Zank noch Straf; sie folgen und lernen mit Freuden!«
Da sagt der Märtel: »’s freut mich doch,
dass wir euch Freude machten.
Seid nur recht brav, dann gibt’s auch noch recht fröhliche Weihnachten!
Ade, ihr Kinder! Bleibt nur hier!«
Nun schlürft er wieder hinaus zur Tür und stolpert die Stiege hinunter.
Doch horch, wie schrei n im Nachbarhaus die bösen Knaben und Mädchen!
Ha, sieh! Der Nikolaus kommt heraus,
im Sack den Fritz und das Gretchen.
Nun hilft kein gutes, kein böses Wort;
der Pelzmärtel trägt sie fort zu den Wölfen und Bären im Wald.
»Ich mochte den Knecht Ruprecht noch nie!«, meinte Miriam mit belegter Stimme. Sie wollte gerade nachsehen, ob sich in dem Kasten außer der Schreibfeder nicht noch etwas anderes befände, als eine Karte hinten aus dem Einband rutschte und zu Boden fiel. Elke ging neben ihr in die Knie und hob sie auf. Jeder von ihnen konnte sehen, dass auf ihr in rostbrauner Schrift eine Notiz verfasst war. Elke las laut vor:
»Hiermit schwören wir bei unserem Blut, dass wir tun werden, was seit alters getan werden muss. Wir schwören, dem Grauen nach alter Sitte entgegenzutreten. Einig und entschlossen. Nichts soll uns entzweien. Nichts soll zwischen uns und die Dunkelheit treten. Freunde für immer! Freunde bis in den Tod!«
Unterzeichnet war der Text mit fünf Namen in fünf unterschiedlichen Handschriften, von denen nur der erste Name der Handschrift des Textes glich: Anna, Gretl, Michael, Stefan, Jonas.
»Mann, haben die das wirklich mit Blut geschrieben?«, wollte Robert wissen.
Elke drehte die Karte um – und erstarrte. Miriam hatte den Eindruck, als träten ihrer Schwester die Augen aus dem Kopf! Panisch schleuderte sie die Karte auf den Boden, stolperte ein, zwei Schritte zurück und fasste sich schockiert an den Mund. »Was ist denn?«, fragte Miriam bestürzt. Sie und Andy bückten sich fast gleichzeitig, um die Karte aufzuheben, doch auch Miriam ließ sie sofort wieder los. Hysterisch schrie sie auf und bekam sich kaum mehr unter Kontrolle. Das war keine Karte! Der Text befand sich auf der Rückseite einer Fotografie. Und diese zeigte keine Unbekannten, sondern Andy, Robert, Niklas, Elke und sie selbst!
»Bitte, beruhigt euch!« Andreas hielt die gespenstische Aufnahme zitternd in den Händen und nahm nur am Rand war, dass die beiden Mädchen einander fest umklammert hielten. Beiden liefen die Tränen übers Gesicht, und sie wirkten so verängstigt wie nie zuvor.
Das Foto zeigte scheinbar tatsächlich ihn selbst, umringt von seinen vier Freunden. Sie standen im warmen Sommerlicht vor dem Bootshaus, lachten und sahen aus, als bereiteten sie alles für einen Grillnachmittag vor. Doch das waren nicht sie. Sie konnten es nicht sein. Denn auf dem Foto trug er Hosen mit Schlag und hatte ein Hemd mit viel zu großem Kragen an. Auch seine vier Freunde waren so gekleidet, wie es Ende der siebziger Mode war. Robert trug lange Haare, und ein leichter Flaum zierte sein Kinn. Elke und Miriam hatten die blonden Haare gescheitelt und an den Seiten ein bisschen nach Hippieart zu schmalen Zöpfen geflochten. Niklas hingegen … Niklas war sehr viel schlanker, nur seine Gesichtszüge waren unverkennbar. Schon damals trug er eine Brille und blickte etwas altklug drein. Doch das konnte nicht sein. Es sah fast so aus, als seien sie alle … .
Robert riss ihm das Foto aus der Hand und gab einen erstickten Laut von sich. »Dafür wird es eine Erklärung geben. Dafür muss es eine Erklärung geben.«
»Begreifst du denn nicht, das sind wir!«, brüllte ihn Elke verheult an. »Wir selbst sind unsere Geschwister!«
»Aber das ist idiotisch. Ich bin 1979 geboren. Ein komplettes Jahr nach dem Verschwinden von … von …«
»Du willst es offenbar nicht kapieren«, schrie sie. »Du bist nicht bloß geboren, Robert. Du bist wiedergeboren. Wir alle wurden wiedergeboren. Ich weiß selbst nicht, wie so etwas möglich ist, aber eine solche Ähnlichkeit wie die zwischen unseren verschwundenen Geschwistern und uns ist völlig widernatürlich. So etwas kann nicht sein.
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