Weisser Schrecken
gesungen in seliger Nacht, wie sie gesungen in seliger Nacht, Glocken mit heiligem Klang, klinget die Erde entlang! Mit einem hässlichen Kratzen brach das Lied ab, und jäh röhrte wieder die unheilvolle Bassstimme. KLING, GLOCKCHEN, KLINGE-LINGE-LING, KLING, GLÖCKCHEN KLING! LASST MICH EIN, IHR KINDER, IST SO KALT DER WINTER, ÖFFNET MIR DIE TÜREN! LASST MICH NICHT ERFRIEREN! Das Radiogerät vibrierte derart, dass es umkippte. Miriam schrie auf. Robert sprang mit einem Satz auf die Beine, stürzte sich auf das Gerät und suchte nach dem Ausschalter. Doch noch immer lärmte die Brüllstimme aus dem Lautsprecher: MÄDCHEN, HÖRT, UND BÜBCHEN, MACHT MIR AUF DAS STÜBCHEN, BRING EUCH VIELE GABEN, SOLLT EUCH DRAN ERLA …! Endlich fand Robert den Knopf. Wütend warf er das Gerät in eine Ecke und schlug Andy grob gegen die Schulter, sodass dieser auf den Boden stürzte.
»Verdammt noch mal. Du solltest das Scheißding ausmachen! Wieso weißt du nie, wann es gut ist?«
»Die wollten uns doch was mitteilen«, meinte Andy lahm. Schuldbewusst blieb er liegen und sah zu ihnen auf. Auch Miriam und Elke waren aufgesprungen und sahen ihn aufgebracht an. Miriam bemerkte plötzlich, dass sich der Wind draußen vor dem Schuppen zu einem Sturm gesteigert hatte, der unerbittlich an Türen und Fenstern des Schuppens rüttelte.
»Merkst du nicht, dass wir eine Grenze überschritten haben?«, blaffte Robert Andy ab. »Elke hat vollkommen Recht. Da … da war irgendetwas nicht richtig. So als ob sich da etwas eingemischt hätte, was da nicht hingehört.«
»Tut mir leid.« Zerknirscht mühte sich Andy auf die Beine. »Vielleicht hätten wir uns auf diese ganze Sache überhaupt nicht einlassen sollen. Das eben hat schließlich nur noch mehr Fragen aufgeworfen, als dass es uns Antworten eingebracht hätte.« Hilflos sah er hinüber zu Elke, auf deren Gesicht sich ein Wechselbad an Gefühlen abzeichnete. Auch Miriam war ratloser als zuvor.
»Ich verstehe nicht, warum sich unsere Geschwister nicht gemeldet haben«, sprach sie in die pfeifenden Windgeräusche hinein. »Was ist mit ihnen?«
Jäh flog das Wasserglas vom Hexenbrett und zerschellte klirrend an der Schuppenwand über dem Kanu. Miriam schrie ebenso wie ihre Schwester auf. »Der … der Spuk ist noch nicht zu Ende«, jammerte sie los. »Wann hört das endlich auf?«
Auch die Jungs sahen sich erschrocken an. Andy leuchtete dorthin, wo die Scherben lagen. Zögernd näherten er und Robert sich der Stelle.
»Mann, sieh dir das an«, meinte Andy. Robert nahm die Petroleumlampe an sich, und Andy rückte das Kanu weiter von der Wand ab. Beide beleuchteten sie eine Stelle am Boden, die Miriam nicht einsehen konnten.
»Hier ist ein loses Brett«, rief Robert zu ihnen rüber. »Darunter glänzt etwas. Ein Kasten oder so.« Andy schnappte sich das Brecheisen, und Miriam konnte hören, wie die beiden Jungs mit seiner Hilfe ein Brett aus dem Boden lösten. Andy bückte sich und präsentierte kurz darauf eine große Lebkuchendose aus silbernem Blech. Er schüttelte sie leicht, und es rumpelte darin. Mit bangen Gesichtern umringten auch die Mädchen den Blechkasten.
»Mach schon«, forderte Elke Andy auf, den Kasten endlich zu öffnen. Andy tat es, und sie starrten auf eine alte Schreibfeder aus Stahl sowie auf einen altertümlich wirkenden Gedichtband, auf dem der Aufdruck Märchen und Gedichte zur Weihnachtszeit stand. Andy nahm das Buch heraus und stellte den Kasten ab. Er schlug den Einband auf, und sie konnten sehen, dass das Buch 1889 in Leipzig gedruckt worden war. Ein vergilbter Zettel klemmte zwischen den Seiten.
Miriam ging das alles nicht schnell genug. »Gib her!« Sie riss Andy den Gedichtband aus der Hand und klappte ihn an der markierten Stelle auf. Ihr Blick fiel auf das Werk eines gewissen Franz Graf von Pocci. Eine Unterzeile machte deutlich, dass der Autor von 1807 bis 1876 gelebt hatte. Das Gedicht lautete auf den Titel »Der Pelzemertel« :
Die Winde sausen um das Haus,
es stürmt daher der Winter.
Nun schaut Pelzmärtel Nikolaus nach euch sich um, ihr Kinder.
Da will ich sehen, was er sagt,
wenn er nun Vater und Mutter fragt,
ob ihr auch brav gewesen.
Horch! Kommt er nicht die Trepp’ herauf?
Hört ihr nicht poltern und schnaufen?
Jawohl er ist’s! – Die Tür geht auf. -
Ihr braucht nicht fortzulaufen und dürft auch nicht erschrecken vor Ruten und vor Stecken,
sieht er auch gleich zum Fürchten aus!
Nun schaut er rings die Kleinen an und
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