Weisser Schrecken
Nicht bei fünf Personen gleichzeitig. Dafür gibt es keine andere Erklärung!«
Andreas spürte, wie ihm die Beine weich wurden. Tatsächlich waren sie alle 1979 geboren worden. Und zwar in den Monaten September, Oktober und November. Niklas war der Jüngste von ihnen, wenngleich das bei den wenigen Tagen Differenz kaum ins Gewicht fiel. Zwischen dem Verschwinden von Michael, Stefan, Jonas, Anna und Gretl und dem möglichen Zeitpunkt ihrer Zeugung lag mindestens ein Monat, und auch der Rest kam hin. Aber so etwas war doch nicht möglich. Oder etwa doch?
»Merkt ihr nicht, wie das alles plötzlich einen schrecklichen Sinn ergibt?«, rief Elke gegen das Lärmen des Windes an. »Denk nur mal an deine Mutter, Andy! Ahnst du jetzt, warum sie sich umgebracht hat? Stell dir mal vor, du verlierst ein Kind und stellst über die Jahre fest, dass ihm dein neues Kind immer mehr ähnelt. So lange, bis er deinem verschwundenen Sohn wie aus dem Gesicht geschnitten ist.« Andreas wollte etwas sagen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. »Und dein Vater? Dieser Mistkerl lässt dich seitdem allein in Perchtal verrotten. Sein schlechtes Gewissen beruhigt er damit, indem er dir ständig Geschenke macht, statt sich selbst um dich zu kümmern. Warum? Ich sag dir den Grund: weil er es nicht wagt, dir ins Gesicht zu blicken. Weil er Angst vor dir hat!« Sie wandte sich Robert zu. »Und du? Dein Vater hat deine Mutter einfach im Stich gelassen. Und was hat sie getan, um das Zusammenleben mit dir zu ertragen?«
»Sie hat angefangen zu trinken«, flüsterte Robert tonlos.
»Und Niklas … Mein Gott!« Elke schlug die Hand vor den Mund. »Dessen Mutter hat sogar versucht, ihn umzubringen. Wahrscheinlich, weil auch sie vor Grauen fast durchgedreht ist. Und unser beider Eltern«, sie sah Miriam an, die ebenso verstört aussah, wie sich Andreas fühlte. »Die sind fanatisch religiös geworden. Sieh dir mal an, wie wir beide früher gekleidet waren. Und denk an all die Sachen aus dem verborgenen Zimmer. Unmöglich sind die schon immer so drauf gewesen. Die glauben jetzt offenbar tatsächlich, dass wir beide so etwas wie Engel sind.« Miriam sackte mit stumpfem Blick in sich zusammen. »Begreift ihr überhaupt, was das bedeutet?« Andreas war noch immer viel zu verwirrt, um zu antworten. »Warum sagt ihr nichts? Sagt doch auch mal was!«, schrie Elke zornig. Niemand im Raum rührte sich. »Arschlöcher!« Wütend stürmte Elke zur Flügeltür, stemmte sie auf und rannte nach draußen in die kalte Nacht.
»Elke!« Andreas schüttelte endlich seine Lähmung ab und rannte hinter ihr her. Draußen toste der Wind, und Eiskristalle bissen schmerzhaft in sein Gesicht. Wo war sie? Schemenhaft konnte er in dem wüsten Schneetreiben eine Gestalt erkennen, die in Richtung der Baumgruppe rannte, die das Bootshaus vom Ort abschirmte. Andreas leuchtete mit seiner Taschenlampe in ihre Richtung und rannte hinter ihr her. Teufel, was war das bloß für ein Sturm? Der Wind zerrte an seiner Kleidung, Tausende Schneeflocken wehten ihm ins Gesicht und als er hinter ihr her durch die Bäume stürmte, hatte er fast das Gefühl, als wollten ihn die windgeschüttelten Zweige und Äste ergreifen. Elke hatte bereits den äußeren Rand der Baumgruppe erreicht. Sie stolperte, kam wieder auf die Beine und taumelte durch den Schnee einer kleinen Wiese auf Perchtal zu. In der Ferne waren schwachgrau die Häuser der Ortschaft zu erkennen. Andy beschleunigte seine Schritte und schaffte es endlich, Elke einzuholen. Er packte sie an der Jacke.
»Elke bitte!«, rief er gegen den heulenden Wind an. In ihren Haarspitzen und Augenbrauen hatte sich der Schnee verfangen, und einen Moment lang erinnerte sie ihn an die tote Anna in der Leichenhalle. Himmel, war Elke vielleicht einst Anna gewesen? Hatte sie ihre eigenen sterblichen Überreste von damals entdeckt? Der Gedanke war so entsetzlich, dass er ihn hastig beiseiteschob. »Es tut mir leid. Ich kann mir das alles doch selbst nicht erklären. Aber wenn wir zusammenhalten, dann werden wir das durchstehen.«
Elke wurde in regelmäßigen Abständen von Weinkrämpfen geschüttelt. Schluchzend ließ sie sich gegen ihn sinken. »Ich hab so eine Angst, Andy. So eine fürchterliche Angst.«
Andreas nahm ihr kaltes Gesicht in seine Hände und küsste es. Er küsste Elke so lange, bis sie sich endlich wieder beruhigt hatte. Als er aufsah, glaubte er weiter hinten am Ortsrand eine dunkle Gestalt ausmachen zu können, die sie beobachtete.
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